Europäische Gewerkschaftsarbeit wichtiger denn je

Leitartikel von Georges Bach, Syprolux-President

Bekanntlich befindet sich der Transportsektor seit geraumer Zeit in einem gewaltigen Umbruch. Deregulierung und kontinuierlicher Zuwachs im Straßengüterverkehr seit den 60-ziger Jahren, eine zügellose Liberalisierung in der Luftfahrt und Umstrukturierungen im Eisenbahnwesen bedingt durch die Inkrafttretung und Weiterentwicklung der EU- Direktive 91/440 brachten gravierende Veränderungen mit sich. Obwohl die gesamten Auswirkungen dieser Politik zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht abzusehen sind, lassen sich bereits jetzt schwerwiegende Verschlechterungen für die vielen Tausenden Beschäftigten des Transportsektors feststellen.

Trotz der allgemeinen Erkenntnis, dass ein grundsätzliches Umdenken in der Verkehrspolitik dringend nötig ist, hält die EU-Kommission am eingeschlagenen Weg fest. Selbst die in ihrem Weisbuch über die Entwicklung der europäischen Transportpolitik bis 2010 aufgelisteten Probleme und die darin vorgeschlagenen Maßnahmen, wie Ausbau der Infrastrukturen und faire Wettbewerbsbedingungen unter den einzelnen Transportträger, veranlassen sie nicht zu einer Umkehr. In ihren Augen zählen einzig und allein niedrige Transportpreise, um im Endeffekt die Waren weiterhin extrem billig, in hohem Ausmaß und vor allem zu ständiger Verfügung der Industrie zu haben. Um diese Ziele zu erreichen wurde die Politik der Deregulierung und des freien Wettbewerbs erlassen. Dass diese Politik die Sicherheit, die Qualität und die Arbeits- und Lohnbedingungen extrem stark beeinträchtigen, interessiert sie nur am Rande. Mögen andere sich mit diesen negativen Auswirkungen beschäftigen.

Auf eine Initiative zu einer Trendwende von Seite der Kunden zu warten, scheint wenig realistisch, wenn nicht gar aussichtslos. Viel zu sehr sind sie selbst an Waren zu erschwinglichen Preisen interessiert. Wer möchte nicht von den obengenannten Vorzügen profitieren?

Auch auf eine Gegenwehr der Unternehmen zu spekulieren hat sich als Trugschluss erwiesen. Die Privatbetriebe suchen vor allem Gewinne zu erwirtschaften um die Aktionäre bestmöglichst zufrieden zu stellen während die (zum Teil noch) staatlichen Gesellschaften in den Strudel der Rentabilität hineingezogen werden und zum Teil ums Überleben kämpfen.

Einzig und allein die Gewerkschaften versuchen eine Umkehrung dieser Politik zu erreichen. Neben der FIOST (Fédération Internationale des Ouvriers du Secteur des Transports) hat auf diesem Gebiet besonders die Europäische Transportarbeiter- Föderation (ETF) in den letzten Jahren eine unübersehbare Stärke erreicht.

211 Mitgliedsgewerkschaften aller Verkehrsarten aus 36 Ländern mit 2,5 Millionen Mitgliedern, davon allein 72 Gewerkschaften mit nahezu einer Million Mitgliedern im Eisenbahnsektor stellen eine Kraft dar, die selbst in politischen Kreisen große Aufmerksamkeit genießt. Nicht von ungefähr kommt die offizielle Repräsentativität bei der EU-Kommission. Besonderes Ansehen wird den schriftlichen Stellungnahmen, den Resolutionen sowie den Konferenzen und Seminaren der ETF entgegengebracht, zeugen sie doch von hoher Fachkenntnis, von großer Seriosität und starkem Einsatz im Interesse einer gerechten Entwicklung im Transport.

Die verschiedenen Sektionen der ETF, Eisenbahn, Strasse, See- und Binnenschifffahrt, Luftfahrt und Öffentlicher Personennahverkehr sind allesamt mit Fachkräften besetzt die zu einem Großteil seit Jahrzehnten in dem jeweiligen Sektor arbeiten, resp. gearbeitet haben und somit wie kein anderer die vielfältigen Probleme der einzelnen Branchen kennen.

Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass die ETF im Sozialdialog-Ausschuss der Eisenbahnbranche eine gleichwertige Rolle neben den Arbeitgebern und den Vertretern der EU- Kommission spielt. In diesem paritätisch besetztem Gremium wurde nicht zuletzt die beiden Vereinbarungen über die Einsatzbedingungen des fahrenden Personals im interoperablen grenzüberschreitenden Verkehrs, sowie zum europäischen Triebfahrzeugführerscheins ausgearbeitet. Nicht von ungefähr wurde ausserdem der ETF ein Posten im Direktionsvorstand der im Rahmen des 2. Eisenbahnpakets kreierten Europäischen Eisenbahnagentur mit Sitz in Lille / Valenciennes zugestanden.

Absolut undenkbar heutzutage wäre eine umfassende Interessenvertretung ohne die politische Arbeit der ETF, ohne das “Political Engineering” die bis vor Kurzem noch für jeden verständlich und bestens bekannte Lobbyarbeit, d.h. eine unermüdliche und frühzeitige Einwirkung auf zuständige Kreise zwecks Vertretung von eigenen Interessen.

Da die Arbeitgeber sich seit geraumer Zeit in Verbänden, Organisationen und Zweckgemeinschaften zusammentun, dieses “Political engineering” bis zur Perfektion betreiben und als Multinationale über die Grenzen hinweg Transportleistungen durchführen bleibt den Gewerkschaften ebenfalls keine andere Wahl. Auch sie müssen in Zukunft noch stärker “grenzenlos” agieren. Europäische Gewerkschaftsarbeit wird wichtiger denn je.

Georges Bach, Syprolux-President, im Transport No 8