Die Lissabon-Strategie ist kein Irrweg, vielmehr eine Erneuerung

Marcel Oberweis über die Lissabon-Strategie

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich Europa, anlässlich des Lissabon-Gipfels vom 24. März 2000, das ambitiöse Ziel gesetzt, der wettbewerbsfähigste Wirtschafts- uns Wissensraum der Welt mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt bis 2010 zu werden. Anlässlich des Frühjahrgipfels am 22. März 2005 unter Luxemburger Präsidentschaft wird man Zwischenbilanz ziehen und hinterfragen, ob die EU das geplante Ziel erreichen kann. Der europäische Traum basiert auf Inklusivität, Verschiedenheit, nachhaltiger Entwicklung, sozialen Rechten und universellen menschenrechten sowie Frieden und Zusammenarbeit zwischen den Menschen. Dies sind die Komponenten einer hohen Lebensqualität.

Die Regierungen der EU-Staaten müssen den Kurs der Lissabon-Strategie für die kommenden fünf Jahren festlegen, um der EU- Kommission ein zielorientiertes Handeln zu ermöglichen. Wenn die EU im scharfen Wettbewerb mit Asien und den USA bestehen will, muss sie sich aber weiter bewegen, Stillstand bedeutet hier eindeutig Rückschritt. Die Definition der Lissabon-Strategie lässt bereits ihr wesentliches Problem erkennen, sollen doch gleichzeitig sowohl wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Ziele erreicht werden. Im Sinne der Lisabon-Strategie treibt eine starke Wirtschaft die Schaffung von Arbeitsplätzen voran und fördert soziale und ökologische Maßnahmen, welche eine nachhaltige Entwicklung und den sozialen Zusammenhalt gewährleisten.

Die grundlegende Ratio von Lissabon ist gültiger denn je: Keine europäische Nation kann auf sich allein gestellt im weltweiten Wettbewerb erfolgreich agieren. Jeder Schritt eines EU-Mitgliedstaates zu mehr Wohlstand und Wettbewerbsstärke gewinnt an Durchschlagskraft, wenn er mit anderen Mitgliedstaaten abgestimmt ist.

Durch die Erfahrung die Zukunft gestallten

Mit Genugtuung liest man im Bericht von Wim Kok, dass die Schaffung von qualitativ guten Arbeitsplätzen und die Bekämpfung der Armut ein ausgemachtes Ziel ist. Die Reform der Arbeitsmärkte steht im Vordergrund, die Mitgliedstaaten werden ihre Steuer- und Sozialleistungssysteme reformieren und größere Anreize für die Aufnahme von Beschäftigung schaffen. Es wurde schon vielfach unterstrichen, dass nur eine höhere Beschäftigungsquote eine Grundvoraussetzung für das nachhaltige Wohlfahrtswachstum darstellt. Seit dem Start der Lissabon-Strategie ist die Beschäftigungsquote von 62,5 auf 64,3 % angestiegen, dies bedeutet die Schaffung von 6 Millionen Arbeitsplätzen und bis 2010 sollen es 70 % werden. Die Zahl der 18 bis 24-Jährigen, die einen einfachen Schulabschluss und keine weitere Ausbildung haben, soll bis 2010 halbiert werden, dies stellt eindeutig die größte Herausforderung an unsere Wissensgesellschaft.

Ein Schwerpunkt liegt im Bereich der Erwerbstätigkeit älterer Menschen, im Speziellen jenen über 50 Jahre, deren Erfahrungen im Arbeitsprozess so wertvoll sind. Wichtig ist, dass sich “ältere” Menschen einerseits durch das lebenslange Lernen für die Anforderungen der Zukunft qualifizieren und sich andererseits durch ihre menschlichen Qualitäten, welche sie während des Berufslebens gesammelt haben, hervorragend in dem viel gepriesenen Tutorat in den Unternehmen einbringen können.

Diejenigen, welche schon mehrere Jahrzehnte hart gearbeitet hat, haben ein verbrieftes Recht, in Rente zu gehen. Im Nachrückverfahren kann ein Arbeitsplatz für einen jungen Lehrling, Hochschulabsolventen oder sonstigen jungen Arbeitsplatzsuchenden frei gemacht werden. Vergessen wir nicht, dass während den letzten 100 Jahre, Dank der Medizin, die Lebenserwartung der Menschen in der Nordhälfte der Erde um praktisch 40 Jahre verlängert wurde. Des gehört niemand mit 50 Jahren zum “alten Eisen”. Im Gegensatz zur Industriegesellschaft von gestern tritt die körperliche Leistungskraft ohnehin hinter die geistige zurück. Erfahrung und Weisheit sind Kategorien, denen die Zukunft gehört.

Um Innovationen voranzubringen, sind drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. Es gilt, das Zusammenspiel von Wissenschaft und Wirtschaft zu verbessern, die Früchte bringende Symbiose zwischen der Lehre, der Forschung, der Innovation ist in neue Produkte umzusetzen und auf die Zukunftsmärkte zu bringen. Das Potenzial unseres Binnenmarktes ist noch nicht völlig ausgeschöpft, es bedarf weiterer Anstrengungen, um ein reibungsloses Funktionieren der Märkte für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit zu erreichen. Annähernd 23 Millionen von Mittel- und Kleinunternehmen bilden neben der Industrie das Rückgrat der europäischen Wirtschaft, 70 % der Arbeitsplätze sind im Dienstleistungsbereich vorhanden Durch einen verringerten Verwaltungsaufwand lässt sich die Wettbewerbsfähigkeit und die Produktivität von Unternehmen steigern.

Europa als Vorzeigemodell in einer schwierigen Zeit

Nur ein umweltverträgliches Wohlstandswachstum ist nachhaltig, die konkrete Umsetzung des Kyoto-Protokoll ist zu beschleunigen. Gerade in diesem Bereich winkt der europäischen Wirtschaft, Dank ihrer hervorragenden Technologien bezüglich der gesteigerten Energieeffizienz und der Nutzung der erneuerbaren Energien durch die Umsetzung der flexiblen Mechanismen des Kyoto-Protokoll eine Auftragsflut. Insbesondere die EU-Umweltstandards sind Weltklasse, leider greifen diese Umwelttechnologien noch nicht außerhalb der EU-Grenzen, die dramatischen Folgen der Verschmutzung unserer Lebensressourcen werden in den kommenden Jahren die Welt aufrütteln. Man möge sich die Umweltfolgen in den USA und Asien ansehen und dann urteilen.

Bei Licht betrachtet können indes die ersten Erfolge der Lissabon-Strategie vermeldet werden u. a. im Sozialbereich, im schulischen Bereich sowie in den Bereichen Telekommunikation, Energieversorgung, Transportwesen und Umwelttechnologien. Über den Weg der europäischen und nationalen Forschungsprogramme werden die benötigten Investitionen getätigt. Diese bilden über den Weg der Lehre, der Ausbildung und der beruflichen Weiterbildung wichtige Impulsgeber für die Industrie, das Handwerk und die Dienstleistungsbetriebe. Europa mit seinen 450 Millionen Einwohnern besitzt enorme Wachstumspotenziale, Tausende von Hochschulen verleihen jedes Jahr Diplome und Anerkennung an Hunderttausende wissbegieriger Menschen. Die Ausbildung stellt die ultimative Herausforderung an die Wissensgesellschaft dar, sie stellt eindeutig die beste Versicherung für eine erfolgreiche Volkswirtschaft dar.

Eingedenk des Erhaltes des europäischen Sozialmodells, welches sich durch die Teilnahme breiter Schichten der Bevölkerung auszeichnet und sich durch eine gerechte Verteilung und Hilfestellung an Bedürftige auszeichnet, sollte das eindeutig formulierte Ziel heißen: Mehr nachhaltiger Wohlstand und Abbau der Arbeitslosenheere. Ist denn die Aussage, dass 40 Millionen US-Amerikaner ohne Krankenversicherung leben müssen, kein schlagender Beweis für die Richtigkeit des Sprichwortes: “Wo viel Licht, da auch viel Schatten”.

Auch sollen die Gedanken in Richtung Teilen mit anderen einfließen, denn wir können unseren Wohlstand nicht sichern, indem wir “den Anderen ewige Armut” verordnen, auch in diesem Bereich hat die Europäische Union eine hervorragende Rolle übernommen, insbesondere Luxemburg bringt sich hier stark ein. Hier wird sich das soziale Gesicht der Europäischen Union hinsichtlich der Drittwelthilfe eindeutig zeigen, in diesem Punkt setzen wir Maßstäbe gegenüber den beiden anderen Wirtschaftsblöcken.

Europa wird nur dann erfolgreich bleiben, wenn es in die Fähigkeiten seiner Menschen investiert, wirksame Strategien für das lebenslange Lernen entwickelt und die Arbeitsmärkte rechtzeitig auf die Alterung der Gesellschaft vorbereitet. Die Lissabon-Strategie als ein Bündel von sich gegenseitig beeinflussenden und verstärkenden Reformen bleibt die überzeugendste Antwort Europas auf die Herausforderung der Globalisierung.

Es wird sich als wichtig erweisen, den Menschen die immer komplexer werdenden technisch-ökonomischen Themen in einer verständlichen Sprache zu vermitteln, um Vorurteile abzubauen. Es muss deutlich gemacht werden, dass Bewegung in die Gesellschaft kommen muss, die Arbeitslosen verlangen dies genauso mit Recht wie die im Arbeitsprozess stehenden Menschen. Verkrustete Strukturen sind obsolet, es bedarf der Trendwende, jedoch ohne begeisterte und motivierte Mitmenschen schaffen wir diese nicht.

Bezüglich der Innovationskraft sehe ich heute schon in der engen Kooperation zwischen der Wirtschaft und der Universität, dem regen Austausch zwischen Lehre, Forschung und Praxis ein weit gefächertes Arbeitsfeld, wo erste Früchte geerntet werden. Wenn wir den Schlüssel zum Erfolg bei unseren Jugendlichen suchen, dann aus der Erkenntnis heraus, dass es eben die Jugendlichen sind, die noch heute die Schulbank drücken, auf denen die Gesellschaft von morgen aufbaut. Und da Innovation und Fortschritt die beiden Elemente deren Fortbestand garantieren, brauchen wir engagierte und kreative Menschen, deren technologische Kompetenz unbestritten, Spitzenniveau erreichen muss.

Seine bisher hart erarbeitete Stellung im Europa der 25 kann Luxemburg nur halten, wenn es gewillt ist, bestimmte Trampelpfade zu verlassen. Wenn uns dies nicht gelingt, werden wir unser bisheriges Gesellschaftsmodell ändern müssen. Die Absicherung gegen fundamentale Risiken von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter kann nicht nur vom Staat verlangt werden, der Subsidiaritätsgedanke beginnt beim einzelnen Bürger, auch er muss seine Verantwortung übernehmen.

Mehr Wohlstand und höhere Wettbewerbsfähigkeit sind deshalb keine Ziele in sich, sie stellen die Voraussetzung für die Sicherung des europäischen Gesellschaftsmodells in einer sich verändernden Zeit dar. Es bedarf deshalb der Verankerung dieser Ideen in unseren Köpfen, nur so gelingt es, die Mitbürger zu überzeugen, dass sich alle Anstrengungen im Sinne der Lissabon-Strategie lohnen.

Der Autor ist Marcel Oberweis- CSV-Abgeordneter