Balanceakt Europa

Ausschnitte aus dem Télécran-Interview mit Jean-Claude Juncker

Télécran: Die elfte EU-Präsidentschaft seit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge von 1957 kommt auf Luxemburg im ersten Halbjahr 2005 zu – wie bewerten Sie dieses Ereignis?

Jean-Claude Juncker: Die Übernahme einer EU-Präsidentschaft ist insofern undramatisch, als dass dies alle sechs Monate passiert. Und im luxemburgischen Fall besonders undramatisch, weil es zum elften Mal passiert und in meinem persönlichen Fall noch undramatischer, weil es zum vierten Mal passiert. Dies ist jedes Mal eine Anstrengung für die gesamte Regierung und die gesamte Verwaltung, also eine Herausforderung, die es in sich hat, die bei mir aber nicht zu schüttelfrostartigen Zuständen führt.

Télécran: Verfällt Luxemburgs nationale Politik trotz Reformbedarfs in einen Dornröschenschlaf, wenn alle Regierungskräfte sechs Monate lang auf den EU-Vorsitz ausgerichtet sind?

Jean-Claude Juncker: Es wird in der Innenpolitik nur ein Tempo vorgelegt werden können, das der Inanspruchnahme durch den EU-Vorsitz entspricht. Die nächsten sechs Monate werden jedenfalls nicht Schrittmacherfunktion bei der innenpolitischen Gestaltung haben können. Trotzdem sind ja nicht alle Minister in gleichem Maß von dem EU-Vorsitz betroffen oder durch Mehrarbeit überlastet. Es gibt Minister, die wenig bis in die europäische Union hineinreichende Kompetenzen zu verwalten haben, die jedenfalls können ihre Reformvorhaben ungestört weitertreiben. Ich habe sie im Übrigen auch individuell gebeten, dies zu tun, damit wir diese halbjährige Präsidentschaft nicht völlig ungenutzt für das innenpolitische Weiterkommen verstreichen lassen.

Télécran: Viele wollten Sie schon im Sommer 2004 zum EU-Kommissionspräsidenten wählen. Ist Ihr EU-Vorsitz 2005 daher eine Art Kürlauf für die Übernahme des Amtes des ersten EU-Präsidenten im Jahr 2007?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass ich jetzt plötzlich über Nacht beweisen müsste, dass es keine abwegige Idee war, mich um die Kommissionspräsidentschaft zu bitten. Ich habe abgelehnt aus den bekannten Gründen, weil ich den Luxemburgern versprochen hatte, in Luxemburg zu bleiben, wenn der Wahlausgang so wäre, wie er war, und das war er dann auch. Ich kann mich jetzt nicht jeden Tag mit derartigen Karriereplänen oder Karrieresprüngen beschäftigen.

“Wir müssen alle Schritte auf den anderen zutun”

Télécran: Es ist Ihr erklärtes Anliegen, exzessive nationale Tendenzen in Europa zu entschärfen. Wie wollen Sie sich als EU-Ratspräsident da anlegen?

Jean-Claude Juncker: Ach, man muss immer wieder erklären, dass, wenn jeder Europapolitik nach eigenem Gusto betreibt und jeder nur auf seine eigene Geschmacksrichtung Rücksicht nimmt, dass dann der europäische Tisch nicht korrekt gedeckt werden kann und das, was aufgetragen wird, nur einem schmecken wird. Insofern muss jeder immer wieder neu lernen, dass wir alle Schritte auf den anderen zutun müssen. Der exzessive Vortrag des national Wünschenswerten unter einfordernder Form tut Europa nicht gut.

Télécran: Die Schwerpunkte Ihres EU-Vorsitzes sind bekannt, mit Lissabon-Strategie, Reform des Stabilitätspaktes, Absteckung des Finanzrahmens 2007 bis 2013, Balkanfrage … Das ist ja ein sehr dichtes Programm. Was muss wirklich erledigt werden?

Jean-Claude Juncker: Die Zwischenbilanzierung, die Lissabon-Agenda betreffend, muss erledigt werden, der Stabilitätspakt wird reformiert werden und wir werden uns sehr um die Aufstellung der finanziellen Vorausschau für den Zeitrahmen 2007 bis 2013 bemühen, mit der Absicht, dieses Unterfangen bis Ende Juni unter Dach und Fach gebracht zu haben, ohne dass wir uns allerdings der Illusion hingeben würden, dies wäre einfach. Es gibt einige in der Europäischen Union, die es lieber sähen, wenn wir uns über die Finanzfrage erst im zweiten Halbjahr 2006 einigen würden als im ersten Halbjahr 2005. Die so denken, irren sich gewaltig, denn wir müssen uns im Juni 2005 geeinigt haben, um den Politikbereich und die anzuleiernden Programme fristgerecht zum 1. Januar 2007 aufstellen zu können.

Télécran: Apropos Finanzen: Warum fällt vielen Bürgern beim Stichwort EU eigentlich nur ein, was das kostet?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass viele Ihrer Leser aus dem Stand den Kostenpunkt der Europäischen Union benennen könnten, und die wenigsten Ihrer Leser werden genau angeben können, was die Europäische Union sie persönlich kostet. Im Übrigen kann man den Kostenpunkt der Europäischen Union berechnen, indem man ausrechnet, was eine Stunde Frieden wert ist und was eine Stunde Krieg kostet. Diese Überlegung ist uns inzwischen aber fremd geworden.

“Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Festigung der sozialen Kohäsion gehören beieinander”

Télécran: Alle Welt redet von mehr Wettbewerbsfähigkeit. Die EU peilt mit der Lissabon-Strategie für 2010 sogar die Spitzenposition an. Wo bleibt bei dieser starken Betonung der Wettbewerbsfähigkeit die soziale Dimension der EU?

Jean-Claude Juncker: Die Lissabonner Reformagenda besteht aus drei Elementen: Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, Festigung des sozialen Zusammenhaltes und eine den Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung gerecht werdende Umweltpolitik. Bei der Zwischenbilanz des Lissabon-Prozesses, für die die luxemburgische EU-Ratspräsidentschaft zuständig sein wird, kommt es uns wesentlich darauf an, dieses synergetische Gleichgewicht nicht aus der Balance zu bringen. Es geht zwar um mehr Wettbewerbsfähigkeit, weil wir mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in Europa brauchen, aber Wettbewerbsfähigkeit, wie das Ökonomische überhaupt, ist kein Selbstzweck. Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum werden nicht angestrebt, weil dies geschlossene Gedankenkreise wären, sondern weil ein beschäftigungsintensives Wachstum soziale Kohäsion möglich macht. Es kann keinen gefestigten sozialen Zusammenhalt geben, wenn wir bei diesen schwachen Wachstumssprüngen bleiben, die wir als Europäer in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten. Deshalb gehören für mich Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Festigung der sozialen Kohäsion intimst als Begriffspaar beieinander. Man darf beides nicht auseinander reißen.

Télécran: Ist dies eine Auffassung, zu der sich die EU-Mitgliedstaaten mehrheitlich bekennen?

Jean-Claude Juncker: Nein. Alle Länder der Europäischen Union haben wesentlich höhere Arbeitslosenbestände als Luxemburg. Sie haben finanzielle Probleme, die wesentlich größer sind als die, die wir aus eigener Anschauung haben. Sie haben Wachstumszuwächse, die wesentlich niedriger sind als die luxemburgischen. Dass es in den Ländern, denen es weniger gut geht als Luxemburg, die Überlegung gibt, alles müsse getan werden, um die Wachstumskraft der nationalen Volkswirtschaften und der europäischen Volkswirtschaft insgesamt zu steigern, das alles getan werden muss, damit die europäische Wirtschaft im Verhältnis zu Amerika, Japan und Asien wettbewerbsfähig ist, ist nachvollziehbar. Dieses Ziel darf aber nicht so glorifiziert werden, dass andere Zielsetzungen wie beispielsweise die soziale Kohäsion hinten angestellt werden. Dagegen muss man sich wehren und man muss diesen Zusammenhang erklären. Es gibt keinen Widerspruch zwischen Umweltpolitik, sozialer Kohäsion und Wettbewerbsfähigkeit. Es ist im Gegenteil so, dass je weniger soziale Kohäsion man hat, um so weniger man auf ständiges gleichgewichtiges Wirtschaftswachstum vorbereitet ist. Eine konsequente Umweltpolitik ist kein Standortnachteil, sondern bei richtig gelagerter Politik ein sehr wesentlicher Standortvorteil.

Lesen Sie das komplette Interview im Télécran vom 22. Dezember 2004