LW-Interview mit Jean-Claude Juncker, hinsichtlich des EU Staats- und Regierungschefs Herbstgipfel in Brüssel
Am Donnerstag und am Freitag findet in Brüssel der traditionelle Herbstgipfel der EU-Staats – und Regierungschefs statt. Premierminister Jean-Claude Juncker erwartet u. a. ein konkretes finanzielles Engagement der EU im Irak.
Luxemburger Wort: Herr Premierminister, der Herbstgipfel geht nun doch über zwei Tage. Lässt sich daraus schließen, dass mehr Probleme zu bewältigen sind, als ursprünglich erwartet?
Jean-Claude Juncker: Nein, aber es gibt einige Probleme, die wir abarbeiten müssen. Es muss etwas konzentrierter über die Lage beraten werden, die nach der nicht-angetretenen Kommission entstanden ist. Die Tatsache, dass die Barroso -Kommission voraussichtlich erst im Dezember antreten wird, ist für uns als kommende EU-Ratspräsidentschaft mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Wir haben den irakischen Ministerpräsidenten Allawi zu einer Besprechung eingeladen.
Ich erwarte ein positives Signal darüber, dass wir unser finanzielles Engagement konkreter fassen. Wir müssen uns ferner mit der Frage Europäischer Rechtsraum befassen, mit einer ersten Erörterung des Türkei-Berichts der Kommission, wobei es noch nicht um inhaltliche Festlegungen geht sondern um Prozedurfragen auf dem Weg zum Dezember-Gipfel.
Wim-Kok-Bericht zur Lissabon-Strategie, Iran, mittlerer Orient…
LW: Im Bericht der Kok-Gruppe heißt es, die Wirtschaft in der EU habe sich in den vergangenen vier Jahren enttäuschend entwickelt. Was muss die Union besser machen?
Jean-Claude Juncker: Es muss bei der Zielsetzung von Lissabon bleiben, aus der Europäischen Union den wettbewerbsfähigsten Teil der Weltwirtschaft zu machen. Ob wir dieses Ziel bis 2010 erreichen, möchte ich doch deutlich bezweifeln. Wir müssen bis 2010 alle Instrumente aufstellen. Es geht auch darum, die nationale Umsetzungsstrategie der Lissabon-Agenda zu verstärken.
Der Lissabon-Prozess darf jedoch keinesfalls ein schöngeredeter Katalog des Sozialabbaus sein. Es muss den Europäern in der Endphase ermöglicht werden, besser, sicherer und sozialkomfortabler zu leben.
LW: Im Kok-Bericht wird insbesondere die schleppende Öffnung der nationalen Dienstleistungsmärkte kritisiert. Luxemburg gehört nicht gerade zu den Enthusiasten, was die vollständige Öffnung dieser Märkte auch für ausländische Anbieter angeht. Beispiele sind Post und Bahn. Wird hier nicht zu lange an Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert festgehalten?
Jean-Claude Juncker: Wir werden in Luxemburg nicht an der Beantwortung dieser Frage vorbeikommen. Wir hätten aber nicht gerne, dass wir in eine wilde Privatisierung abgleiten, in eine grenzenlose Deregulierung. Wir müssen diesen Öffnungsprozess in sozialvertretbare Bahnen lenken.
LW: Muss der Euro-Stabilitätspakt nicht doch gelockert werden, um den Weg für mehr Wachstum freizumachen und damit für mehr Arbeitsplätze?
Jean-Claude Juncker: Wer in guten Jahren etwas auf die hohe Kante gelegt hat, der hat keine unüberwindbaren haushaltspolitische Schwierigkeiten in Zeiten des Konjunkturrückgangs. Luxemburg ist ein gutes Beispiel dafür. Man muss in der Hochkonjunktur die Investitionsmittel ansparen, die man in Zeiten des wirtschaftlichen Rückgangs ausgeben kann. Ich werde am Rande des Gipfels ein längeres Gespräch mit Jacques Chirac und Gerhard Schröder über die Neuausrichtung des Stabilitätspakts führen. Wir werden während unseres Vorsitzes diese Themen zielorientiert angehen.
LW: Ein weiteres Gipfelthema wird das Haager Programm sein, mit dem die Strategie von Tampere zur Schaffung eines einheitlichen Rechts- und Sicherheitsraums ergänzt wird. Was ist hier in den kommenden fünf Jahren zu tun?
Jean-Claude Juncker: Wir müssen in wichtigen Teilbereichen des europäischen Rechtsraums bis April klären, in welchen Bereichen wir mit Mehrheit beschließen. Wir brauchen eine stärkere Vernetzung der Terroristendateien und anderer Verbrecherdateien. Informationsaustausch ist die logische Folge der stärkeren Vernetzung der Dateien. Es geht nicht darum, die besten Dateien der Welt zu haben. Wenn wir nicht austauschen, wissen die Terroristen, wie sie vorgehen sollen.
LW: Bei ihren Vorschlägen zur Terrorismusbekämpfung schlägt die EU -Kommission auch vor, dass die Strafverfolgungsbehörden einen besseren Zugang zu den Datenbanken der Geldinstitute bekommen. Stört hier das Luxemburger Bankgeheimnis?
Jean-Claude Juncker: Wenn es um Verbrechensbekämpfung geht, wird es keine luxemburgische administrative oder gerichtliche Instanz geben, die Informationsvermeidung betreibt.
“Man muss in Sachen Europa kompliziert denken und einfach reden”
LW: “Europa den Bürgern vermitteln”, heißt ein Thema, das die niederländische Präsidentschaft behandeln will. Was ist darunter zu verstehen?
Jean-Claude Juncker: Man muss in Sachen Europa kompliziert denken und einfach reden statt umgekehrt. Es muss verständlicher werden, was wir bei unseren Treffen in Brüssel und anderswo beschließen. Allerdings dürfen wir dies nicht mit plumpen Show-Elementen durchsetzen. Ich sehe da nämlich manches, was die Niederländer ins Auge fassen, das mehr störend als erklärend sein wird. Fernsehsendungen und Trallala.
LW: Die europäische Verfassung böte doch ein gutes Beispiel…
Jean-Claude Juncker: Die Menschen würden schon gern wissen, was Sache ist und deshalb muss jeder in seinem Land die relevanten Verfassungselemente so erklären, dass sie verständlich werden, ohne sie übermäßig zu vulgarisieren . Man muss dafür sorgen, dass sie auf Zustimmung treffen können.
“Barroso muss wissen, wie viele Umstellungen er braucht”
LW: Der umstrittene italienische Kandidat für den Posten des Justizkommissars, Rocco Buttiglione und die Lettin Ingrida Udre haben inzwischen ihre Kandidaturen für die Barroso-Kommission zurückgezogen. Ist damit der Weg frei für die Wahl der neuen Kommission durch das Europaparlament?
Jean-Claude Juncker: Dies ist Einschätzungssache des designierten Kommissionspräsidenten. Er muss wissen, wie viele Umstellungen er in seinem Tableau braucht, um die Zustimmung des Europäischen Parlaments zu bekommen. Falls er den Eindruck haben sollte, dass die beiden Wechsel nicht ausreichen, muss er mit denjenigen Regierungschefs darüber reden, von denen er einen neuen Personalvorschlag erwartet.
Das Interview führte Gerd Werle für das Luxemburger Wort vom 4.11.2004