Verantwortung für die Armen – sind wir dazu bereit?

Gedanken zur Zeit von Marcel Oberweis, Professor für Energiewirtschaft, Mitglied im CSV-Nationalkomitee und Leiter der CSV-Arbeitsgruppe Umwelt, Energie und Landesplanung


Politik als Gestaltung von Zukunft ist die Herausforderung unserer Gesellschaft. Meistern kann dies jedoch nur, wer dies in Anerkennung der Realität und mit der Vorstellung von zukunftsfähigen Visionen verbindet. Die Globalisierung der Wirtschaft führt zu einer tiefer werdenden Abhängigkeit und Verzahnung zwischen den Volkswirtschaften und Veränderungsprozesse werden in Gang gesetzt, deren Ergebnisse in der Gesamtheit noch nicht erkannt werden. Sichtbar werden jedoch die wirtschaftliche Ausbeutung der Ärmsten, Gewinnmaximierung auf Kosten der Kinder und Frauen.

Im Zusammenhang mit der Deckung des unaufhörlich steigenden Energiebedarfs der industrialisierten Länder werden Jahr für Jahr gewaltige Summen in den Bau neuer Kraftwerke, Raffinerien, Pipelines und anderer konventioneller Infrastrukturen eingebracht – Investitionen, die zu einem erheblichen Teil in den Schwellenländern und den Drittweltländern getätigt werden. 250 Mrd. $ werden jährlich in den Ausbau sowie den Unterhalt der Energieinfrastruktur investiert und nahezu 1,5 Billionen $ werden jährlich für den Energieverbrauch ausgegeben, nur dass 80 % von diesem Energieverbrauch in den reichen Ländern abfällt und die Drittweltländer sich mit getrocknetem Kuhdung und Reisig zufrieden geben müssen. Und was schlimmer wirkt, die statischen Reichweiten der fossilen Energieträger liegen im Bereich von zwei Generationen für Erdöl und Erdgas bis hin zu fünf Generationen bei der Kohle.

Die rezenten Unruhen in Bolivien haben zur Genüge gezeigt, bis wohin unsere Unverfrorenheit geht. Die Auseinandersetzungen, denen über 100 Menschen zum Opfer fielen, beruhten auf dem Wunsch der USA nach Erdgas aus dem südamerikanischen Land, da sich die eigenen Erdgasvorräte langsam dem Endpunkt nähern und die strategischen Ressourcen nicht angebohrt werden. Bolivien, reich an Bodenschätzen wie Zink, Erdgas und Gold, ist eines der ärmsten Länder Lateinamerika, jeder zweite der neun Mio. Bewohner lebt unter dem Existenzminimum und davon sind 60 % der Ureinwohner. Wenn dieses Beispiel Schule macht, dann fragt man sich zu Recht, wann die Menschen in den Drittweltländern aufstehen und sich auf den Weg zu den warmen “Hütten” im Norden machen.

An dieser Stelle möchte ich auch auf die sich täglich vor den Küsten Europas stattfindenden Flüchtlingsdramen verweisen, vielen Menschen gelingt hier der Eintritt in die Festung Europas nicht. Wenn es vor Jahren nur wenige gab, die sich waghalsig auf Nussschalen setzten und über das Mittelmeer wagten, dann sind es heute Tausende von hungrigen Menschen, die das Armenhaus Afrika oder das Innere Asien verlassen, in der Hoffnung, mit uns im reichen Westen an der gefüllten Tafelrunde teilzunehmen.

Es steht außer Frage, dass diese Migration ein erhebliches Konfliktpotenzial hervorrufen wird, in manchen Regionen wird es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um bewohnbares Land und natürliche Ressourcen kommen. Jedoch, nicht nur die Energiefrage stellt eine erschreckende Ungerechtigkeit dar, viel schlimmer verhält es sich mit der Wasserversorgung. Philippe Busquin, der EU-Forschungskommissar hat es kürzlich auf den Punkt gebracht, als er meinte, dass die Wasserqualität und -knappheit zwei der größten Herausforderungen in der Welt von heute sind. Menschen in den Entwicklungsländern erleben die doppelte Ungerechtigkeit, angesichts des Preises, den sie für Wasser bezahlen müssen und dessen Genuss eine hohe Gefährlichkeit für die Gesundheit birgt. Genau wie die Energieversorgung muss auch die Wasserversorgung der armen Bevölkerung unser aller Anliegen werden, ansonsten werden wir uns von der angestrebten nachhaltigen Entwicklung in unseren Breitengraden nichts kaufen können; aber sind wir noch bereit, mit den anderen zu teilen.

Die ersten Zeichen werden sichtbar

Durch die rapide Zunahme der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre wird die Strahlungsbilanz verändert mit der Folge, dass sich die Temperaturen auf der Erdoberfläche insgesamt gesehen erhöhen. Die globale Erwärmung betrug in den vergangenen 100 Jahren bisher schon 0,6 °C und die Dekade von 1990 bis 2000 gilt als die wärmste in den vergangenen 1000 Jahren, der Meeresspiegel erhöhte sich während den vergangenen 100 Jahren um etwa 15 cm.

Führende Klimawissenschaftler und Ozeanographen liefern heute schon einhellige Antworten, auf Fragen, die bald niemand zu stellen wagt. Die Energienachfrage wird bis 2030 jährlich um 1,8 % steigen und demzufolge erhöhen sich die CO2-Emissionen, von derzeit 24 Mrd. t auf 44 Mrd. t im Jahr 2003, möglicherweise erhöht sich der Meeresspiegel um weitere 20 cm. Die Entwicklung können wir nicht mehr bremsen, das Weltklima ändert sich, wohl als relativ träges System, aber die ersten negativen Konsequenzen lassen sich ausmachen: Abschmelzung der Polarkappen, Veränderung der Klimazonen und damit Bedrohung für alle Menschen. Im Mittelmeerraum müssen sich die Menschen an immer stärkere und länger anhaltende Hitzewellen gewöhnen, zugleich an sintflutartige Regenfälle, die schwere Überschwemmungen und Erdrutsche nach sich ziehen. Die tropischen Ozeane erwärmen sich rapide mit einem ungeahnten Korallensterben zur Folge und die riesigen Gebiete im Norden Russlands setzen in einem vermehrten Masse das klimaschädigende Gas Methan frei.

Schwierige Situation

Die 6,3 Mrd. Menschen vermehren sich jährlich um etwa 77 Mio., jüngsten Schätzungen zufolge werden im Jahr 2050 etwa 9,1 Mrd. Menschen die Erde bevölkern. 85 % der Weltbevölkerung lebt in den Entwicklungsländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen, das etwa 6 % desjenigen in den Industrieländern entspricht. Eine Mrd. Menschen ist von der Wüstenbildung und von der Dürre in mehr als 100 Ländern bedroht. Während die Weltbevölkerung anwächst, schrumpft das verfügbare Ackerland um täglich 20.000 ha. In diesem Zusammenhang muss auf die prekäre Wasserversorgung hingewiesen werden: Wasser hat für das 21. Jahrhundert die gleiche Bedeutung wie Erdöl für das 20. Jahrhundert, ein wertvolles Gut, das den Wohlstand der Nationen bestimmen wird.

Lassen uns die eindringenden Informationen über das Elend der Menschen “dort unten”, angesichts der Probleme in unserer Gesellschaft, denn so kalt. Sind wir uns bewusst, dass dort alle sieben Sekunden ein Kind stirbt und alle vier Minuten ein Mensch durch den Mangel an Vitamin A erblindet. Weiterhin darf es nicht unberührt lassen, wenn uns bewusst wird, dass jeder sechste Mensch in einem Slum lebt, immerhin 1 Mrd. Menschen leben ohne geringsten Komfort, den wir jedoch mit Klauen verteidigen.

Diese Zahl wird sich laut Experten auf 2 Mrd. Menschen bis 2020 erhöhen. In Afrika, dem Armenhaus der Welt, leben 71 % der Bevölkerung unter diesen erbärmlichen Bedingungen. Eine Tatsache, die sich verheerend auf die Behebung dieser Missstände auswirkt, ist die Mangelware Bildung. In Niger z.B. gehen nur 16 % der Kinder und Jugendlichen zur Schule, 16 % der Erwachsenen können lesen und schreiben. In den meisten Ländern der Sahelzone und des südlichen Afrika stellt man ein erschreckendes Analphabetentum fest. Die Kinder haben eine geringe Chance auf eine gute Schulbildung und die Erwachsenen verfügen über keine nennenswerte Ausbildung, wie soll denn dort der so oft geforderte Fortschritt gewährleistet werden.

Der fromme Wunsch ist Makulatur

Der fromme Wunsch der Vereinten Nationen, den Hunger bis zum 2015 um 50 % schrumpfen zu lassen, ist Makulatur, wir schaffen dies laut den Aussagen der FAO erst im Jahr 2115 !! Die Armut ist jedoch für uns sichtbar in die Zentren des reichen Nordens zurückgekehrt, auch in Luxemburg müssen wir uns diesem schwierigen Problem ernsthaft annehmen, wenn wie den inneren Zusammenhalt in der Gesellschaft aufrechthalten möchten. Die Zahlen bezüglich der Erwerbslosen sprechen eine eindeutige Sprache, vielleicht sollten wir über den Sinn ein sozial gerechten Verteuerung der Energiepreise nachdenken, ganz im Sinne der nachhaltigen ökologischen Steuerreform, und dementsprechend die Arbeit weniger teuer gestalten.

Die Verschuldung der »Dritten Welt« ist ins Unermessliche gestiegen, in den Drittweltländern sind es gerade die Frauen und Mädchen, welche von der Erwerbslosigkeit betroffen sind und denen die Würde als Mensch vorenthalten wird, vor allem viele alleinlebende Mütter leben bereits unter der Armutsgrenze. Die heutige Krise ist jedoch nicht nur eine ökonomische. Sie ist vielmehr verknüpft mit einer Reihe weiterer Krisen; oder anders ausgedrückt, die derzeitige Krise hat verschiedene, miteinander verbundene Dimensionen: neben der ökonomischen die ökologische, die soziale, die politische, die ethische und die psychologische Dimension. Nicht zuletzt sind wir mit einer enormen Krise des Denkens, einer Erosion des gesunden Menschenverstandes, einer Konfusion des Erkennens und mit einem Mangel an Orientierung und Perspektiven konfrontiert.

Schlussbetrachtungen

Es ist vernünftig die nachhaltige und voraussehbare Politik zu gestalten. Im Gegensatz zu den heute lebenden Menschen können sich die noch nicht geborenen Generationen gegen unser aktuelles Handeln nicht zur Wehr setzen. Von den gegenwärtig wirtschaftenden Generationen muss deshalb aus ethischen Gründen Verantwortung für die Zukunft übernommen werden. Das bedeutet, die heute erkennbaren Interessen künftiger Generationen müssen im aktuellen Handeln angemessen mitberücksichtigt werden. Eine auf Nachhaltigkeit abzielende Entwicklung heißt im Kern, den kommenden Generationen keine Lebens- und Entwicklungschancen vorzuenthalten.

Für die Energieversorgung sind die Ressourcen- und Senkenfunktionen von Umwelt und Natur die zentrale Dimension auf dem Weg zur Realisierung einer nachhaltigen Entwicklung. Das kommende Zeitalter ist geprägt von zunehmender Knappheit der Ressourcen und die unausbleibliche Verringerung des Lebensstandards führt zu einer Häufung von Konflikten. Wie weit dies eintritt, hängt davon ab, welche Mechanismen gefunden werden um die Folgen der Knappheit nicht nur auf bestimmte Menschengruppen zu kanalisieren. Und es hängt davon ab, auf welche Weise Konflikte gelöst, gemeistert oder unterdrückt werden.

Luxemburg darf sich aber glücklich schätzen, eines der wenigen Länder der Welt zu sein, das seine Hilfe gegenüber den Bedürftigen nicht verringert hat. Im Gegenteil haben wir es geschafft, auch den heutigen wirtschaftlich kritischen Zeiten, den notleidenden Menschen zu helfen. Der Anteil der Entwicklungshilfe am luxemburgischen Bruttoinlandsprodukt belief sich im auf 0,82 % im Jahr 2002, für 2003 sind 0,84 % vorgesehen und für 2004 ist noch eine Steigerung um 7,2 % vorgesehen, immerhin weit über dem geforderten Muss von 0,7%. 182,9 Mio € werden allein von staatlicher Seite zur Verfügung gestellt, nebst den Mio €, welche über andere Kanäle den Menschen zur Verfügung gestellt werden.

Es gebührt den politisch Verantwortlichen, allen voran Jean-Claude Juncker und Luc Frieden, die Anerkennung ob dieses Mitgefühl für diejenigen draußen vor der Tür. Den Menschen in den Drittweltländern die gleiche Lebenschancen und Lebensqualität einräumen, muss das Ziel unser Bemühungen sein. Alle Menschen sollen in den Genuss von ausreichender Ernährung, medizinischer Grundversorgung, eine intakten Energieversorgung sowie einer angemessenen Schul- und Berufsausbildung kommen.
Es wird immer deutlicher, dass das Paradigma des unbegrenzten Wachstums nicht nur ökologisch in die Katastrophe führt, sondern auch ökonomisch nicht »nachhaltig« ist, weder im Süden noch im Norden. Die Herausforderung, die sich hinter dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung verbirgt, wird letztlich wohl nur bewältigt werden können, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass alle Menschen hier in einer und derselben Welt leben.

Und hat nicht anlässlich der zweiten “Journée sociale” Erzbischof Fernand Franck den prägnanten Satz gesagt: “Lassen Sie uns die Arbeit machen und die Steine beseitigen, die einer menschenwürdigen Gesellschaft im Weg liegen”.

Es bedarf vieler freiwilliger Hände, um dieses Unterfangen zu Ende zu bringen.