Interview mit Premierminister Jean-Claude Juncker betreffend die Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei ab 2005 mit Friedbert Meurer im Deutschlandfunk.
Meurer: “Soll die Türkei in die EU aufgenommen werden? Bundeskanzler Gerhard Schröder hat gestern dem türkischen Premier Erdogan Hoffnungen gemacht: “Eines Tages werde die Türkei die EU-Vollmitgliedschaft erhalten.” Stand der Dinge ist: Seit 1999 ist die Türkei offiziell Beitrittskandidat, und die EU will voraussichtlich Ende nächsten Jahres entscheiden, wann mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen. Erdogan selbst verweist auf die beschlossenen innenpolitischen Reformen, mit denen Ankara doch versuche, die Forderungen der EU zu erfüllen. Am Telefon begrüße ich nun den Ministerpräsidenten des EU-Landes Luxemburg Jean-Claude Juncker von der Christlich-Sozialen Volkspartei. Herr Juncker, sind Sie für einen Beitritt der Türkei in die EU?”
Auf einfache Fragen nicht einfache Antworten geben!
Juncker: “Also auch am frühen Morgen soll man auf einfache Fragen nicht einfache Antworten geben. Sie haben die politische Beschlusslage richtig beschrieben. Wir werden Ende 2004 entscheiden müssen, ob und wann wir Verhandlungen mit der Türkei beginnen, ob, das heißt ob die Bedingungen erfüllt sind, die sogenannten Kopenhagener Kriterien. Erst dann werden wir den Zeitpunkt festlegen können, ab dem Verhandlungen laufen. Ob diese Verhandlungen dann schnell zum Abschluss gebracht werden können, davon möchte ich nicht ausgehen. Für mich ist das ein ergebnisoffener Prozess. Wir verhandeln. Das wird lange dauern. Man wird unterwegs feststellen, auf türkischer Seite und auf EU-Seite, ob es geht, ob es nicht geht, und dann muss irgendwann der richtige Beschluss gefasst werden.”
Es gilt bestimmte Bedingungen zu erfüllen, doch die Türkei befindet sich auf dem richtigen Weg!
Meurer: “Wann, glauben Sie, wird mit den Verhandlungen begonnen?”
Juncker: “Mein kleiner Finger sagt mir, dass das in der ersten Jahreshälfte des Jahres 2005 der Fall sein könnte, falls bis dahin alle Bedingungen erfüllt sind.”
Meurer: “Wie sehr beeindrucken Sie denn die Reformen, die der islamisch-konservative türkische Ministerpräsident bisher durchgesetzt hat?”
Juncker: “Tatsache ist, dass, seit es den Beschluss gibt, die Türkei zu einem Beitrittskandidaten zu machen, die Türkei sich selbst und wir sie auch unter erheblichen Transformationenstress gesetzt haben. Dieser Transformationsstress, dieser EU-Anpassungsprozess war vor wenigen Jahren nicht denkbar, was die inneren Reformen in der Türkei angeht.
Ich war vor einigen Monaten selbst in der Türkei, habe mit Herrn Erdogan und anderen geredet, auch mit Menschenrechtsgruppen und vielen anderen, und ich habe festgestellt, dass dieser Prozess in der Mache ist. Selbstverständlich ist noch nicht in jeder Polizeistube in Anatolien die gesamte Veränderungsdichte angekommen oder aufgenommen worden, aber mir wird auch von Menschenrechtsorganisationen, bei aller Bedenklichkeit, die sie immer wieder äußern, bedeutet, dass sich die Türkei auf dem richtigen Weg befindet, was die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien anbelangt. Hier bleibt noch einiges zu leisten, und man darf die Kopenhagener Kriterien, vor allem die Menschenrechtsfrage ja nicht als Petitesse auf europäischen Kontinent abhandeln.”
Meurer: “Nun sagen manche, die Fortschritte stehen nur auf dem Papier. Wie groß oder wie klein sind denn die Defizite?”
Juncker: “Also diese Reformen stehen auf dem Papier, das stimmt. Es war wichtig, sie auf den Papier zu kriegen. Aber diese Reformen stehen nicht auf dem Papier. Es hat zu sehr erheblichen Veränderungen in der Türkei geführt. Das ist alles noch nicht so, wie wir es gerne hätten, bevor wir mit den offiziellen Beitrittsverhandlungen anfangen können, aber die Dinge bewegen sich in die richtige Richtung. Sie müssen sich stärker bewegen. Diese Reformen müssen auch dingfest, irreversibel gemacht werden. Der Druck muss erhalten bleiben.”
Meurer: “Was sagen Sie denn zu der Debatte in Deutschland, vor allen Dingen bei den Christdemokraten, wo einige kategorisch eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU ausschließen, zum Beispiel aus historischen Gründen oder weil die Türkei nur zu 5% zu Europa geographisch gehört?”
Juncker: “Also ich möchte mich nicht in eine innerdeutsche Debatte einmischen, aber die Argumente, die hier erörtert werden, sind genau die Argumente, die in allen europäischen Ländern auf der Debattentagesordnung stehen. Für mich ist klar, dass die Europäische Union keine Religionsgemeinschaft im klassischen Sinne des Wortes ist. Für mich ist klar, um das mal salopp zu formulieren, dass die Europäische Union kein Christenverein ist. Für mich macht die Vorstellung an sich auch Sinn, dass wir ein islamisches Land von der Größe, der Bevölkerungsdichte der Türkei in die Europäische Union integrieren, um uns selbst und der Welt zu zeigen, dass das machbar ist, dass Menschen unterschiedlicher religiöser Ausprägung sehr gut miteinander in einer von integrationsweiterführenden Ambitionen getragenen europäischen Konstruktion zusammenleben können.“
Meurer: “Wird der Zusammenhalt der EU nicht auf eine sehr starke Probe gesetzt, wenn ein kulturell völlig anderes Land Mitglied würde?”
Juncker: “Die Türkei ist ein Land der Ersten Welt und die Türkei ist ein Land der Dritten Welt. Ich halte die ökonomischen Herausforderungen in einem zusammenwachsenden Europa angesichts der Spannungen, auch religiöser Natur in der Welt, die man abbauen muss, für wesentlich schwieriger als die zur Zeit in Deutschland debattierten Fragen. Die Türkei – das zeigen ja auch die Geschichtsbücher – war schon im 16. Jahrhundert eine europäische Macht, und es gibt in der Türkei heute erhebliche, sehr einflussreiche Kräfte, die so überdeutlich prowestlich sind, dass man dies einfach zur Kenntnis nehmen muss. Außerdem müssen wir der Zeit ja auch Zeit geben.
Die Türkei bewegt sich auf Europa zu.
Sie wird langsam und, wie ich denke, sicher unser Verhaltensmuster übernehmen, unsere demokratisch eingefärbten Reflexzonen übernehmen. Wir reden jetzt darüber, ob wir mit der Türkei die Verhandlungen zum Beitritt beginnen. Diese Entscheidung werden wir Ende des Jahres 2004 zu treffen haben. Wir reden nicht darüber, dass die Türkei morgen früh Vollmitglied der Europäischen Union sein soll. Wenn die Verhandlungen laufen und wir feststellen, sowohl auf Seiten der Türkei als auch auf Seiten der Europäischen Union, dass wir zwar die Absicht hatten, aus der Türkei ein Vollmitglied zu machen, dass aber aus Gründen, die man heute noch nicht ersieht, die man aber vielleicht schon erahnen kann, dies nicht möglich sein wird, dann müssen sich beide Seiten dazu aufraffen, die Unmöglichkeit des Planes zu akzeptieren und ein besonderes zwischen der Europäischen Union und der Türkei in die Wege leiten. Ich sage, dies ist ein ergebnisoffener Prozess. Man sollte sich jetzt noch nicht festlegen.”
Meurer: “Der Ministerpräsident des EU – Landes Luxemburg, Jean-Claude Juncker, Vielen Dank für das Gespräch.”
(Interview mit Premierminister Jean-Claude Juncker betreffend die Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei ab 2005 mit Friedbert Meurer im Deutschlandfunk, ausgestrahlt am 3. September 2003 um 07:15 Uhr).