LW-Gespräch mit Innenminister Michel Wolter über die landesplanerische Zukunft Luxemburgs.
ari – Die Landesplanung, die Innenminister Michel Wolter einfach als “gesunder Menschenverstand in Form von Politik” definiert, wird zunehmend zum Kernstück der Innenpolitik. Das “Programme directeur” wurde im April dem Parlament vorgestellt. Der Regionalplan Süden steht. Ebenso der “Plan sectoriel Lycées”. Weitere regionale und sektiorelle Pläne werden zurzeit ausgearbeitet. Im Herbst soll das mit großen Vorschusslorbeeren angekündigte Integrative Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept (IVL) stehen. Wir haben uns mit Michel Wolter über abstrakte Visionen und konkrete Maßnahmen der Landesplanung unterhalten. Dabei herausgekommen ist nichts weniger als die Vision einer “Neuordnung des Landes”. Und eine ganz konkrete Aufforderung des Ministers an Gemeinden und Parteien, bei der anstehenden Kompetenzdebatte Staat-Gemeinden endlich Farbe zu bekennen.
Luxemburger Wort: “Landesplanung in Luxemburg ist für viele Menschen ein Buch in Fachchinesisch mit sieben Siegeln. Können Sie diese Siegel aufbrechen, Herr Minister?”
Michel Wolter: “Landesplanung ist eigentlich ganz einfach: Es ist schlicht die Umsetzung des gesunden Menschenverstandes in Politik.”
LW: “Landesplanung ist ein relativ neues Politikfeld. Wieso ist man früher ohne Landesplanung ausgekommen?”
M. Wolter: “In den vergangenen 15 Jahren sind pro Jahr rund 6 000 Menschen nach Luxemburg gekommen. Dies sind rund 100 000 Einwohner mehr. Diese Menschen müssen hier wohnen, hier arbeiten und sich auch bewegen können. Immer mehr stellt sich dabei die Frage nach der “Gestion de l’espace”. Dies war und ist ja auch das Hauptthema der so genannten 700 000-Debatte.”
“Mehr Koordination als in der Vergangenheit”
LW: “Die Landesplanung wird also zunehmend wichtiger?”
M. Wolter: “Sie ist heute eines der wichtigsten Politikfelder überhaupt. Wohnen, Arbeiten und Mobilität wird immer komplizierter. In Zukunft braucht es hier mehr Koordination als in der Vergangenheit. Dies sind die Herausforderungen. So sieht die Problematik aus.”
LW: “Und die Antworten darauf?”
M. Wolter: “Die Antworten darauf befinden sich im Landesplanungsgesetz von 1999. Dies ist eines der modernsten Gesetze in Europa. Mit vielen interessanten Instrumenten für die Landesplanung, die Regionalplanung oder auch die sektorielle Planung.”
LW: “Welche Instrumente meinen Sie?”
M. Wolter: “Das Gesetz sieht u. a. die Ausarbeitung eines “Programme directeur” vor, das vor einigen Monaten von der Regierung verabschiedet wurde und im März dem Parlament vorgestellt wurde.”
LW: “Die Hauptpunkte dieses Programms sind …”
M. Wolter: “Sechs Planungsregionen sowie mit Luxemburg-Stadt, Esch-Alzette und der Nordstad drei große Entwicklungszentren. In jeder Region gibt es weiter ein oder zwei regionale Zentren. Dabei sollen auch die spezifischen Identitäten der Regionen entwickelt werden.”
“Kernstück der Innenpolitik”
LW: “Glauben Sie eigentlich an dieses Programm, an diese Zentren?”
M. Wolter: “Sehr sogar. Es ist nämlich die einzige Möglichkeit, die Probleme, die unser Wachstum mit sich bringt, zu lösen. Landesplanung ist das Kernstück der Innenpolitik.”
LW: “Um etwa die Verkehrsprobleme in den Griff zu bekommen?”
M. Wolter: “Zum Beispiel. Wenn wir einen effizienten öffentlichen Transport wollen, kommen wir um eine gewisse Landesplanung nicht herum.”
LW: “Sie haben eben die Nordstad genannt. Die Idee feiert dieser Tage ihren 30. Geburtstag. Sie glauben an das Konzept?”
M. Wolter: “Ganz klar: wir brauchen dringend eine gemeinsame Entwicklungspolitik der Nordstad-Gemeinden. Auch der Staat ist bereit, hier mitzuziehen.”
Dosierung zwischen zentraler und regionaler Politik
LW: “Besteht aber nicht trotzdem die Gefahr, zu viel planen zu wollen?”
M. Wolter: “Natürlich: das größte Problem der Landesplanung ist die richtige Dosierung zwischen zentral organisierter Politik und regionaler und lokaler Politik. Aber die Zeit der Reden muss nun vorbei sein. Nun muss gehandelt werden.”
LW: “Sie meinen die anstehende Kompetenzdebatte zwischen Staat und Gemeinden?”
M. Wolter: “Ganz genau. Diese Debatte müssen wir noch vor den Sommerferien führen. Und sie wird absolut entscheidend sein.”
LW: “Auch für die Landesplanung?”
M. Wolter: “Besonders für die Landesplanung. Jeder muss seine Karten auf den Tisch legen. Wir müssen klären, ob wir es ernst mit der Landesplanung meinen oder nicht. Vielleicht haben wir auch zu viel Subsidiarität bei den Gemeinden, um eine kohärente Landesplanung zu haben.”
LW: “Im Herbst steht dann das IVL auf der Tagesordnung?”
M. Wolter: “Im Herbst wird das Integrative Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept (IVL) verabschiedet werden. Seit zwei Jahren arbeiten wir daran.”
“Mit dem IVL gehen wir einen Schritt weiter”
LW: “Was bezwecken Sie mit dem IVL?”
M. Wolter: “Mit dem IVL gehen wir einen Schritt weiter und versuchen, die übertriebene Konzentration in Luxemburg-Stadt zu durchbrechen und in Richtung konzentrierte Dezentralisierung zu gehen.”
LW: “Konkret bedeutet das …”
M. Wolter: “… dass wir in die Regionen gehen, dass wir aus der Nordstad eine Hauptstadt für den Norden machen, dass wir Clerf weiter entwickeln, Grevenmacher und, und, und …”
LW: “Welche Auswirkungen wird dies auf Arbeitsplätze und den Verkehr haben?”
M. Wolter: “Wir wollen 25 Prozent des Verkehrs über den öffentlichen Transport abwickeln. Natürlich müssen wir dann auch die Arbeitsplätze zu den Menschen bringen. Das IVL wird uns hier Antworten geben. Wir müssen es allerdings auch ernst nehmen. Und die Schlussfolgerungen anschließend auch umsetzen.”
LW: “Sehen Sie da Probleme?”
M. Wolter: “Es ist einfach, in Sonntagsreden für Landesplanung zu sein. Wenn es dann an die Umsetzung geht, ist es eine ganz andere Sache.”
LW: “Auch für die Dezentralisierung trifft dies zu?”
M. Wolter: “Natürlich. Mit verschiedenen Gemeinden könnte es hier zu Meinungsverschiedenheiten kommen.”
LW: “Wie werden voraussichtlich die Schlussfolgerungen des IVL aussehen?”
M. Wolter: “Mehr Entwicklung an den Grenzen, in der Nordstad, im Süden. Wir brauchen grüne Freiräume. Und wir müssen aufpassen, dass die Hauptstadt nicht ganz an den Süden heranwächst. Das Basisgerüst des IVL ist das “Programme directeur”. Mit den Zielsetzungen Verlagerung in die Regionen, Brechen der Distanzen, bessere Ausnutzung der Fläche, hochwertige Arbeitsplätze in allen Regionen. Lassen Sie mich hier nur das Beispiel Industriebrachen mit ihren 20 000 Arbeitsplätzen im Süden nennen.”
Schwierigkeiten bei konkreter Umsetzung
LW: “Und die Gemeinden ziehen mit?”
M. Wolter: “Dies werden wir ja dann sehen. Viele merken, dass es nicht anders mehr geht. Aber bei den konkreten Umsetzungen wird es, wie gesagt, sehr schwierig werden.”
LW: “Warum?”
M. Wolter: “Einige Entscheidungen werden wohl nicht mit den bestehenden PAGs oder den Entwicklungsvorstellungen von manchen Gemeinden kompatibel sein. Dies wird für mich die ganz große Diskussion.”
LW: “Weil es auch Auswirkungen auf die “Autonomie communale” haben wird?”
M. Wolter: “Sehr starke sogar. Wenn wir z. B. meinen, dass eine Gemeinde mehr Wohnfläche braucht und die Gemeinde anderer Meinung ist, kann das schon zum Problem werden. In Sonntagsreden sind alle dafür. Ich hoffe, dass die Abgeordneten und Bürgermeister auch noch so begeistert sind, wenn es dann konkret wird.”
“Ich sehe keine Alternative”
LW: “Für Sie sind “Programme directeur” und IVL unumgänglich?”
M. Wolter: “Ich sehe keine Alternative. Aber zu der Debatte Landesplanung gehört auch eine Debatte über die Neuorganisation der Gemeinden. Und auch des Staates.”
LW: “Das heißt …”
M. Wolter: “Wenn wir sechs neue Regionen schaffen und Dezentralisierung ein Leitziel unserer Politik ist, müssen wir auch unsere Verwaltung anpassen, umgestalten und dezentralisieren. Wir müssen Infrastrukturen gerecht verteilen. Dabei stellt sich natürlich immer wieder die Frage nach der berühmten “Masse critique”.
LW: “Dies bedingt natürlich auch, dass regional vernetzt gedacht wird.”
M. Wolter: “Dies ist ja auch Sinn und Zweck unserer Regionalpläne. Wir wollen, dass die Gemeinden über ihren Tellerrand hinaus zusammenarbeiten.”
LW: “Ein weiter wichtiges Instrument sind die “Plans sectoriels”?”
M. Wolter: “Hier versuchen wir auf nationaler Ebene die Konflikte zwischen verschiedenen Politikfeldern zu lösen. Auch der Staat muss lernen, vernetzt zu denken und zusammenzuarbeiten. Wir haben sehr gute Erfahrungen beim “Plan sectoriel transport” oder auch beim “Plan d’occupation Findel” gemacht. Übrigens ein weiteres Instrument unserer Landesplanung.”
“Vernetzt denken und handeln ist sehr kompliziert”
LW: “Behalten Sie eigentlich den Überblick bei all diesen Instrumenten und Plänen?”
M. Wolter: “Vernetzt denken und handeln ist sehr kompliziert. Es ist viel einfacher, nicht koordiniert zu arbeiten. Aber eben auch lange nicht so effizient. So werden nämlich die Konflikte im Vorfeld gelöst.”
LW: “Zurück zu den sechs Regionen des “Programme directeur”. Wie sehen die nächsten Schritte aus?”
M. Wolter: “Wir wollen langfristig ein interkommunales Syndikat pro Region. Im Süden haben wir das bereits erreicht. In der Region Norden läuft die Stärken-Schwächen-Analyse.”
LW: “Welche Rolle spielen Gemeindefusionen bei der Landesplanung?”
M. Wolter: “Sie spielen schon eine gewisse Rolle. Und bleiben auch weiterhin wichtig. Wenige große Gemeinden können einfach besser zusammenarbeiten als viele kleine. In diesem Zusammenhang wird einmal mehr die Kompetenzdebatte eine große Rolle spielen.”
LW: “Und auch die Parteien müssen Farbe bekennen?”
M. Wolter: “Ich erwarte von den politischen Parteien, dass sie sich eindeutig zur Landesplanung und zur Neuordnung des Landes positionieren. Ich warte jedenfalls gespannt auf die Kompetenzdebatte Staat-Gemeinden im Juli im Parlament.”
“Mögliche Verfassungsänderung”
LW: “Steht auch eine mögliche Verfassungsänderung an?”
M. Wolter: “Jetzt noch nicht. Aber später vielleicht. Wenn wir uns nämlich auf die sechs Regionen einigen können, machen die Kantone keinen Sinn mehr. Und auch die Frage der Wahlbezirke könnte neu diskutiert werden. Wir brauchen eine neue Verwaltungsstruktur des Landes.”
LW: “Auch die Nachhaltigkeit spielt dabei eine Rolle?”
M. Wolter: “Ja, wobei Nachhaltigkeit für mich einfach bedeutet, politisch langfristig zu denken und zu handeln.”
LW: “Haben Sie in der Vergangenheit vielleicht nicht genug geplant?”
M. Wolter: “Die Zeiten sind heute anders. Wir hatten natürlich auch nicht die Tradition der Landesplanung in Luxemburg.”
LW: “Was hat der Mann von der Straße aus Esch/Alzette, aus der Nordstad oder aus Grevenmacher von dieser Politik?”
M. Wolter: “Die Probleme, die er heute hat, werden geringer. Seine Lebensqualität wird spürbar verbessert. Wir versuchen die Staus auf ein Minimum zu reduzieren. Wir wollen, dass die Menschen in ihrer Region einkaufen können. Wir wollen gleichwertige Dienstleistungen und Investitionen von Staat und Gemeinden überall im Land.”
LW: “Ist es eigentlich einfach, die Gemeindeverantwortlichen von diesem Konzept zu überzeugen?”
M. Wolter: “Das ist sehr unterschiedlich. Noch sind nicht alle überzeugt. Aber die konkreten Resultate werden überzeugen! Und Landesplanung ist sowieso ein langfristiges Zukunftsprojekt für Luxemburg.”
LW: “Wir stehen ja auch erst am Anfang …”
M. Wolter: “Eindeutig: 1999 wurde erst das Landesplanungsgesetz vom Parlament verabschiedet. Langsam, aber sicher setzen wir es jetzt in die Realität um.”
LW: “Wie sieht eigentlich Ihre Rolle bei diesem Thema aus?”
M. Wolter: “Der Minister ist der Koordinator der Landesplanung. Ich versuche, die Menschen zusammenzubringen. Und dass nicht nur debattiert wird, sondern dass auch Entscheidungen getroffen werden. Diese müssen allerdings dann auch umgesetzt werden.”
LW: “Wollen Sie das Thema auch im kommenden Wahlkampf diskutieren?”
M. Wolter: “Es wäre wünschenswert, eine große nationale Debatte über die landesplanerische Zukunft des Landes zu führen.”
LW: “Reibungslos wird diese Debatte nicht über die Bühne gehen?”
M. Wolter: “Da mache ich mir keine Illusionen. Nicht zuletzt, weil der Knackpunkt bei der Landesplanung immer die Umsetzung ist! Jeder war ja auch prinzipiell mit dem BTB einverstanden. Bis dann konkrete Trassen ausgearbeitet wurden. Ich hoffe, dass es diesmal besser läuft. Und ich glaube auch daran!”