Vor dem EU-Gipfel in Porto Carras (Griechenland) führte das Luxemburger Wort ein Interview mit Premierminister Jean-Claude Juncker.
GeWe – Der ursprünglich für den 20. und 21. Juni geplante EU-Gipfel in Porto Carras, 130 Kilometer entfernt von Thessaloniki auf Kalkidiki, wird voraussichtlich von Diskussionen über den Verfassungsentwurf geprägt sein, den der Präsident des Konvents, Valéry Giscard d´Estaing, den Staats- und Regierungschefs erläutern wird. Die “Chefs” wollen zum Abschluss eine von den Außenministern gesteuerte Regierungskonferenz einsetzen, um schließlich selbst über deren Ergebnisse zu befinden. Am Dienstagvormittag stellte sich Premierminister Jean-Claude Juncker den Fragen des LW.
Luxemburger Wort: “Herr Premierminister, Ihre ersten Reaktionen gegenüber dem Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” und dem Radiosender DNR zu den Ergebnissen des EU-Verfassungskonvents waren nicht gerade von Begeisterung geprägt. Was müsste Ihrer Meinung nach am institutionellen Teil der Verfassung geändert werden, um ihn effizienter und für die Bürger verständlicher zu machen?”
Jean-Claude Juncker: “Wir haben das Risiko nicht eliminiert, dass es zu einem ungesunden Wettbewerb in der Doppelspitze zwischen dem EU-Kommissionspräsidenten und dem Europäischen Ratspräsidenten kommt. Es bleibt Aufgabe des Europäischen Rates in Zukunft festzulegen ? nachdem die rotierende Präsidentschaft abgeschafft wird, deren Mängel aber auch deren Verdienste wir kennen gelernt haben ? wer in den nächsten Jahren den Vorsitz betreuen wird. Zur Zeit weiß ich sehr genau, dass Luxemburg im ersten Halbjahr 2005 den Gesamtvorsitz im Rat der Europäischen Union führen wird. Und zwar vom Europäischen Rat (der Staats- und Regierungschefs) bis zum Sportministerrat.
Niemand vermag aus heutiger Sicht zu sagen, wer im ersten Semester 2006 Vorsitzender des Finanzministerrats sein wird, wer Vorsitzender des Agrarministerrats im Jahr 2007, wer Vorsitzender im Justizministerrat 2008. Niemand vermag sich halbwegs vorzustellen, auf welche Weise die Beziehungen zwischen dem Europäischen Ratspräsidenten und den Vorsitzenden, die aus verschiedenen Ländern kommen werden, zu einer wünschenswerten Effizienzsteigerung beitragen sollen, ist bis heute schleierhaft.
Man überlässt es dem Europäischen Rat einstimmig festzulegen, wie in Zukunft der Vorsitz in den Fachministerräten zu regeln sein wird, und man verschiebt einen Konflikt auf die Jahre 2006 und 2007, der nur dadurch entstanden ist, dass man die rotierende Ratspräsidentschaft abgeschafft hat. Man hätte die Entschärfung des Konflikts im Vertrag selbst anlegen sollen.”
Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik
LW: “Halten Sie es für möglich, dass die Regierungskonferenz doch noch eine andere Lösung findet, z. B. die einjährige Rotation im Vorsitz statt einer sechsmonatigen?”
J.-C. Juncker: “Die Regierungskonferenz wird viele Aspekte, die im Konvent zufrieden stellend geregelt wurden, nicht erneut thematisieren. Dort wird es bei den Festlegungen bleiben. Es gibt aber einige Punkte, wo die Regierungskonferenz nachbessern muss. Dies trifft vor allem für die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen in Außen- und Sicherheitspolitik zu. Allerdings mache ich mir keine Illusionen, dass alle Regierungen dort zu weiterführenden Integrationsschritten bereit wären. Und wir werden die Texte so aufpolieren müssen, dass sie sich auch entfalten können. Beispielsweise steht heute noch im Entwurf, dass der Europäische Rat Gesetze erlassen kann, dass er aber nicht gesetzgeberisch tätig werden kann. Derartige Widersprüche müssen selbstverständlich eliminiert werden.
Lob für Jacques Santer
Im übrigen muss ich ausdrücklich sagen, dass vor allem der Luxemburger Regierungsvertreter Jacques Santer eine vorzügliche Arbeit im Konvent geleistet hat. Santer ist von vielen Seiten immer wieder für seine konsensbildenden und kompromisserleichternde Verhandlungsführung gelobt worden.”
Schmale und mickrige Befugnisse des EU-Präsidenten
LW: “Jacques Santer hat sich im Konvent, auch im Namen der Benelux-Länder, für eine starke EU-Kommission und einen gestärkten Kommissionspräsidenten eingesetzt, weil sich die kleinen Länder bei der Kommission gut aufgehoben fühlen. Sind Sie mit der künftigen Rolle der Kommission zufrieden?”
J.-C. Juncker: “Wenn die Kommission einen starken Präsidenten erhält, der sich seiner Machtbefugnisse selbstbewusst annimmt, wird er nicht als der Verlierer des Konvents und der Regierungskonferenz betrachtet werden können. Wenn sich allerdings jemand in den Vorsitz des Europäischen Rats einschleicht, der versucht, die schmalen und mickrigen Befugnisse seines Amtes auszuweiten, dann käme es zu einem unedlen Wettbewerb in der Doppelspitze der Europäischen Union und zu einer abnehmenden Sichtbarkeit europäischer Aktivität auf der internationalen Bühne. Der Kommissionspräsident hat nicht alle Einflusszonen zusätzlich erhalten, die wir ihm gewünscht hätten. Es hängt wesentlich von der personellen Ausstattung in den nächsten Jahren ab.”
Abschaffung der Rotation klingt gut, aber …
LW: “Lassen Sie uns noch ein wenig in medias res gehen. Wir möchten Ihnen nach dem Vorbild einer Fernsehsendung jetzt einige Stichworte geben, die Sie bitte in einem kurzen Satz vervollständigen.
Der europäische Außenminister” … (J.-C. Juncker) “ist eine nützliche Novellierung, die zu einer effizienteren Außenpolitik der EU führen kann, wenn wir die Perspektive des Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik offen halten.”
LW: “Der Legislativrat” … (J.-C. Juncker) “ist eine Totgeburt, die es nicht geben wird.”
LW: “Öffentliche Ratstagungen” … (J.-C. Juncker) “haben Nutzen, wenn sich die Minister vorher auf den Fluren unterhalten können.”
LW: “Juniorkommissare” … (J.-C. Juncker) sind die einzige Möglichkeit, zu einer funktionsfähigen Kommissionszusammensetzung zu gelangen.”
LW: “Die Abschaffung der Rotation” … (J.-C. Juncker) “klingt gut, wird aber die Lösung der europäischen Probleme nicht wesentlich erleichtern.”
LW: “Giscard d´Estaing” … (J.-C. Juncker) “ist Giscard d´Estaing.”
LW: “Das Mitentscheidungsrecht des Europaparlaments” … (J.-C. Juncker) “halte ich für eine demokratische Notwendigkeit und begrüße seine Ausweitung ausdrücklich.”
LW: “Die Regierungskonferenz” … (J.-C. Juncker) “wird die Ergebnisse des Konvents in vielen Teilen übernehmen und in anderen Teilen überprüfen müssen.”
Regierungskonferenz im März 2004 abschließen
LW: “Wann sollte die Regierungskonferenz starten und wann müsste sie beendet werden?”
J.-C. Juncker: “Die Regierungskonferenz sollte im Oktober dieses Jahres beginnen und im März 2004 zum Abschluss gebracht werden, so dass wir danach gemeinsam mit den neuen Mitgliedern der Europäischen Union den neuen Vertrag im Mai 2004 in Rom unterschreiben können.”
LW: “Eine persönliche Frage: Welchen Posten würden Sie nach 2006 lieber annehmen, den des Kommissionspräsidenten, des Europäischen Ratspräsidenten oder jenen des Ecofin-Vorsitzenden?”
J.-C. Juncker: “Wenn die Luxemburger bereit sind, im Juni 2004 zum Ausdruck zu bringen, dass sie mich gerne als ihren Premierminister behalten würden, werde ich keine der von ihnen gestellten Fragen beantworten müssen.”
LW: “Weitere Themen werden in Porto Carras die Einwanderungspolitik, sein, die Balkan-Strategie, die Vorbereitung des Gipfels EU-USA und sicherlich auch der Nahe Osten. Auf welchen Feldern erwarten Sie konkrete Ergebnisse?”
J.-C. Juncker: “Ich glaube, die Chancen stehen gut, dass wir auf dem Feld der Asyl- und Einwanderungspolitik aufgrund der von den Justizministerräten getroffenen Vorbereitungen vorankommen werden.”
(aus Luxemburger Wort 8.Juni 2003 / Vor dem EU-Gipfel in Porto Carras (Griechenland) führte Journalist Gerd Werle ein Interview mit Premierminister Jean-Claude Juncker.)