Ansprache von Herr Santer bei der Stiftung Internationaler Karlspreis zu Aachen.
Meine Damen und Herren,
wir sind an einem entscheidenden Zeitpunkt angelangt. Denn es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß wir gegenwärtig zwei markante Entwicklungen erleben:
Einerseits haben wir zwei riesige, historische Schritte auf dem Weg der europäischen Integration vollzogen, nämlich den Eintritt in die dritte Stufe der WW-Union durch die Einführung des Euro und den formellen Abschluß der Erweiterungsverhandlungen der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa.
Andererseits wurde durch die Einsetzung des europäischen Konvents nach dem teilweisen Fehlschlag des Gipfels in Nizza eine neue Debatte übe die Zukunft Europas eröffnet, eine Debatte, die teilweise zumindest einem diffusen Gefühl des Unbehagens und der Unzufriedenheit zu entspringen scheint. Man hat manchmal den Eindruck, der Wind habe sich gedreht. Manchen scheint die Integrationstiefe bereits zu weit gegangen zu sein. Weniger “Brüssel” wird gefordert, was immer das auch bedeuten mag.
Ich bin mir nicht sicher, ob sich jeder voll bewußt ist, welche Lawine mit dieser Debatte losgetreten wurde. Daß wir diese Diskussion brauchen, daran besteht kein Zweifel. Wir brauchen eine Diskussion über die Zukunft Europas, über unsere Ziele und unseren Weg dorthin. Eine Diskussion nicht nur zwischen den sogenannten gesellschaftlichen Eliten, zwischen den Europaexperten sozusagen, sondern auch eine breite Diskussion mit und zwischen den Bürgern.
Nicht nur Diskussionen, sondern vor allem Entscheidungen
Wir brauchen aber nicht nur Diskussionen, wir brauchen aber vor allem auch zukunftsträchtige Entscheidungen.
Bevor wir von der Zukunft reden, sollten wir vielleicht erst einmal über das reden, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten bereits erreicht wurde. Das ist nämlich eine ganze Menge:
Aus der Wirtschaftsgemeinschaft der Sechs ist die Union der Fünfzehn geworden und der Erweiterungsprozeß um weitere zehn Staaten ist endgültig in die Wege geleitet.
Der Binnenmarkt steht vor der Vollendung und damit ein einheitlicher Markt für bereits heute 380 Millionen Verbraucher.
Der Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion mit jetzt zwölf Teilnehmern und damit mit einer einheitlichen Währung für über 300 Millionen Menschen in Europa ist erfolgreich am 1.1.2002 abgeschlossen.
Und nicht zuletzt hat die Europäische Union auch damit begonnen, sich Bereichen zuzuwenden, die vielen Bürgerinnen und Bürgern besonders am Herzen liegen: die Beschäftigung, der Umwelt, der inneren Sicherheit, der Vertretung europäischer Interessen außerhalb der Grenzen der Europäischen Union.
Das Konzept der Gründerväter der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg war also ausgesprochen erfolgreich, so erfolgreich, daß Mitte der 90er Jahre ein bekannter amerikanischer Philosoph Prof. Samuel Huntington in seinem Buch “State of the world” folgendes geschrieben:
“Sollte die Europäische Gemeinschaft sich politisch zusammenschließen, hätte sie die Bevölkerung, die Ressourcen, den ökonomischen Wohlstand, die Technologie und die potentielle militärische Stärke, die herausragende Macht des 21. Jahrhunderts zu werden…
Man kann sich eine europäische ideologische Ausstrahlung vorstellen, welche der amerikanischen vergleichbar wäre. In der ganzen Welt stehen Menschen vor den Türen amerikanischer Konsulate Schlange, die um Einwanderungsvisa ansuchen. In Brüssel stehen ganze Länder Schlange, die der Europäischen Gemeinschaft beitreten wollen. Eine Union von den demokratischen wohlhabenden, sozial unterschiedlichen Gesellschaften mit gemischten Wirtschaften wäre eine mächtige Kraft auf der Weltbühne. Wenn das nächste Jahrhundert (oder 21. Jh.) kein anerkanntes mehr sein sollte, dann wahrscheinlich ein europäisches!
Den Reformen auf europäischer Ebene nicht entziehen
Und dennoch spüren wir im Moment bei vielen Menschen eine gewisse Verunsicherung. Skepsis gegenüber Europa. Zweifel an der Methode, mit der wir die europäische Integration angehen. Fragen in welche Richtung es in Zukunft weiter gehen soll.
Seien wir ehrlich: Diese Zweifel sind beileibe nicht auf die Europäische Union beschränkt. In einer Vielzahl von Ländern wird der politische Betrieb ganz allgemein gegenwärtig von vielen Menschen mit Distanz, mit Skepsis, ja manchmal sogar mit einer gewissen Abneigung betrachtet. Aber da die Bürger mit den europäischen Institutionen nicht die gleichen emotionalen Bande verbinden wie mit den Nationalstaaten, sind diese Institutionen für derartige Stimmungswechsel besonders anfällig. Das ist unser Problem. Aber es ist gleichzeitig auch unsere Chance. Denn es bedeutet, daß wir uns den Reformen auf europäischer Ebene nicht entziehen können. Unsere gegenwärtige Herausforderung ist daher, diesen Zweifel auf den Grund zu gehen. Wir müssen auf die drängenden Fragen Antworten finden. Antworten, welche die Menschen überzeugen. Aber wie?
Zunächst müssen wir meiner Ansicht nach die fundamentalen Veränderungen der letzten zehn Jahre zur Kenntnis nehmen. Lassen Sie mich drei dieser Veränderungen herausgreifen:
Erstens, das Ende des Kalten Krieges mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs und damit die einmalige Chance ganz Europa nach fast einem halben Jahrtausend der Teilung in Frieden und Freiheit zu vereinigen. Es ist unsere historische und moralische Verantwortung, diese Chance zu nutzen.
Zweitens, die dramatische zunehmende Globalisierung der Weltwirtschaft und die damit verbundene Zunahme des Wettbewerbsdrucks in Europa, die Vollendung des Binnenmarktes und der Euro werden diesen Druck noch weiter verstärken.
Und drittens, die Rückbesinnung auf regionale Identitäten mit der Konsequenz, daß nationale Regierungen häufig gleichzeitig Kompetenzen an ihre eigenen Regionen und an Europa abgeben mußten.
Ich bin mir nicht sicher, ob sich jeder der Tragweite der von mir beschriebenen Entwicklungen in Europa bereits voll bewußt ist. Denn vieles wird ja erst in den nächsten Jahren für den Einzelnen direkt begreifbar werden. Aber wir müssen bereits jetzt, auf die Erkenntnis der fundamentalen Veränderungen aufbauend, die notwendigen Anpassungen und Reformen einleiten und ich bin zuversichtlich, dass trotz der miesen Stimmung, die immer weitere Kreise zu ziehen scheint, es genug verantwortungsbewusste Politiker gibt, die gerade jetzt, in dieser Stimmung den Mut besitzen und die geeigneten Reformen in Angriff nehmen und das Einigungswerk in Europa weiter konsolidieren und auszubauen.
Welche Gründe habe ich für meine Zuversicht?
Lassen Sie mich zunächst mit der Währungsunion beginnen
Die Währungsunion mit ihrer wirtschaftlichen und politischen Logik ist Wirklichkeit geworden.
Die wirtschaftliche Logik bedeutet, daß uns der Euro helfen wird, einen Binnenmarkt mit einer wirklichen Binnenmarktordnung zu schaffen, das Potential dieses großen Marktes mit über 380 Millionen Verbrauchern voll auszuschöpfen.
Mit der Währungsunion sind die Währungsschwankungen zwischen den Teilnehmerländern endgültig verschwunden. Wechselkursrisiken und Wechselgebühren sind weggefallen.
Besonders wettbewerbsfähige und innovationsfreudige Unternehmen werden die ersten Nutznießer sein. Für die übrigen Unternehmen wird der Zwang zur Anpassung dadurch nur noch dringlicher.
Die Preise werden in allen Teilnehmerländern der Währungsunion völlig transparent sein, d.h., die Unternehmen werden begründen müssen, weshalb ein Produkt in einem Land 20 % und manchmal gar 30 % teurer ist, als in einem anderen. Der Wettbewerb in der Euro-Zone wird daher härter.
All jene, die am Stabilitäts- und Wachstumspakt herumnörgeln oder ihn sogar als Alibi für ihr eigenes Unvermögen vorhalten, möchte ich davor warnen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Man sollte sich bewußt sein, daß es ohne Stabilitäts- und Wachstumspakt nie zur Einführung der einheitlichen Währung gekommen wäre, und – der Euro ist noch ein zu zartes Pflänzchen, als daß man eine Kultur der erreichten Stabilität jetzt schon aufgeben könnte.
Aber auch die Staaten stehen vor dieser Herausforderung. Bereits vor der Einführung des Euro haben sie einen großen Teil der Wegstrecke zurückgelegt, was die Entwicklung der Staatsschulden und der Inflationsraten deutlich zeigt. Während meiner gesamten politischen Laufbahn habe ich eine makroökonomische Konvergenz solchen Ausmaßes noch nie erlebt. Wir haben eine Kultur der Stabilität erreicht.
Aber wir dürfen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen.
In der Eurozone müssen alle Mitgliedstaaten eine verantwortungsbewußte Haushaltspolitik führen müssen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt verpflichtet alle Mitgliedstaaten zu einer besonders stabilitätsbewußten und disziplinierten Haushaltspolitik.
Die Herausforderung gilt daher auch für die Sozial- und Steuersysteme. Die größere Transparenz und die strenge Haushaltsführung, die mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt eingeführt wurden, müssen Reformen unserer weitgehend in der Nachkriegszeit entstandenen Steuer- und Sozialsysteme zur Folge haben. Die wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Verhältnisse lassen sich mit den heutigen nicht vergleichen. Baby boom gestern, Überalterung der Bevölkerung heute. Wiederaufbau gestern unter dem Schutz hoher Zollmauern. Weltweiter Wettbewerb heute durch Zollsenkungen. Vollbeschäftigung gestern, Massenarbeitslosigkeit heute. Strukturreformen sind daher unumgänglich und werden durch den Euro noch dringlicher. Denn der Euro ist kein Selbstzweck, sonder ein Instrument, mit dem die Wirtschaft reformiert werden kann. Er ist aber auch ein politisches Instrument.
Denn hinter dem Euro steht eine politische Logik. Der Euro wird zum bisher greifbarsten Zeichen der europäischen Einheit. Nichts ist so konkret wie die Währung. Nichts wird im Alltag der Europäer so sichtbar sein wie der Euro.
Meine Damen und Herren,
Ich komme daher zur politischen Union
Die große Aufgabe der kommenden Jahre ist die politische Union, von der manchmal die Verwirklichung aller bisher unerfüllt gebliebenen Erwartungen erhofft wird. Sie stellt Europa vor zwei Herausforderungen.
Die erste Herausforderung an das politische Europa geht die Völker unmittelbar an.
Mit der Währungsunion haben wir eine einheitliche Währung erhalten, die wir gemeinsam verwalten müssen. Werden wir einig genug sein, um Entscheidungen treffen zu können, die über das unmittelbare Nationalinteresse hinausgehen? Werden wir im allgemeinen Interesse Europas entscheiden können? Bisher was das vor allem das Vorrecht derjenigen, die in Brüssel unmittelbar am europäischen Aufbauwerk mitgewirkt haben. Morgen wird das alle Bürger angehen. Alle Bürger müssen bereit sein, europäisch zu denken und eine Währungspolitik zu akzeptieren, die nicht unbedingt für die eigene Region, sondern für die gesamte Euro-Zone gut ist.
Das war auch in einem Nationalstaat nicht anders. Für alle Bundesländer gibt es nur einen einzigen Zinssatz und eine einzige Währungspolitik, die auf dem nationalen Interesse Deutschlands beruht. Heute müssen die europäischen Völker, d.h. ihre Vertreter, bereit sein, europäisch zu denken und daher sicherlich Vertrauen zueinander haben. Wir müssen unsere Vorurteile überwinden und uns besser kennenlernen, denn der Euro ist eine Vertrauensfrage, die eines Tages sicherlich gestellt wird. Bis es dazu kommt, müssen wir alles tun, damit die Europäer ihre Zustimmung geben.
Der Euro wird ein Erfolg, wenn uns gelingt, das Europa der Eliten in ein Europa der Völker und der Bürger zu verwandeln. Das Europa des Euro und das Europa der Bürger schließen sich keineswegs aus. Sie bedeuten kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander.
Die Europäische Gemeinschaft hat sich immer mehr dafür eingesetzt, daß wir nicht nur ein Europa der Unternehmen und der Kapitalmärkte, sondern ein Europa der Bürger aufbauen. Mit Hilfe des ERASMUS- und des SOKRATES-Programms konnten über 1.000.000 Jugendliche einen Teil ihrer Ausbildung im Ausland absolvieren. Die Gemeinschaft erzielt mit diesen Programmen einen besonders großen Erfolg. Hier ist das Geld des Steuerzahlers sinnvoll angelegt. Sie sind nicht nur eine Investition in die Zukunft, sondern auch eine Investition in Europa.
Die zweite Herausforderung geht die Mitgliedstaaten selbst an und betrifft zwei Bereiche, in denen bisher weniger Fortschritte erzielt worden sind. Auch in diesen Bereichen brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Europa.
Der erste Bereich ist die Außenpolitik. Der Euro macht die Europäische Union in der Weltwirtschaft schlagartig sichtbarer. Dafür möchte ich nur ein Beispiel anführen. Die Währungsunion hat schon bei der Finanzkrise in Asien als Schutzschild gedient. Wegen der Währungsunion wurde Europa von dieser Krise verhältnismäßig wenig berührt.
Europa als neue Währungsgroßmacht muß sich daher die Frage nach seiner weltwirtschaftlichen Verantwortung stellen. Im vergangenen Januar bin ich nach Asien gereist. Obwohl wir den Krisenländern dieser Region bei der Überwindung ihrer derzeitigen Schwierigkeiten wesentlich geholfen haben, treten wir nicht sonderlich in Erscheinung. Die Asiaten haben zu Unrecht den Eindruck, daß wir nicht genügend für sie tun. Der Euro wird unserer Finanzhilfe eine wirtschaftlich und vor allem politisch größere Hebelwirkung verleihen, weil diese, was nicht unwichtig ist, die Mitgliedstaaten zwingen wird, ihr weltpolitisches Handeln häufiger abzustimmen.
Auch im Bereich der Sicherheit muß Europa Flagge zeigen. Europa kann in einer Welt voller Krisen keine Insel der Sicherheit sein. Wir müssen zu unserer internationalen Verantwortung stehen, vor allem gegenüber unseren unmittelbaren Nachbarn.
Gewiß, die Union ist bereits sehr aktiv. Europa nimmt großzügig jene auf, die vor militärischen Konflikten fliehen. Die Europäische Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten sind die größten Beitragszahler des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge, denn zusammen finanzieren wir seit 10 Jahren über 50 % des Haushalts dieser Einrichtung, während die Vereinigten Staaten ein Viertel und Japan 12 % übernehmen. Wir sind der größte Geber öffentlicher Entwicklungshilfe, denn 1996 stammten über 60 % der Entwicklungshilfe aus der Fünfzehnergemeinschaft, die seit sieben Jahren auch 55 % der Finanzhilfe für die mittel- und osteuropäischen Ländern bereitstellt. Außerdem leistet sie 76 % der Finanzhilfe für die Länder der ehemaligen Sowjetunion und 40 % der Wiederaufbauhilfe für Bosnien-Herzegowina, um nur diese Zielgruppe zu erwähnen.
Wir spielen also bereits eine Rolle in der Welt. Können wir uns aber mit der Aufnahme von Flüchtlingen begnügen? Können wir uns mit der Finanzierung des Wiederaufbaus zufrieden geben? Wir sind wohl ein global payer (ein globaler Zahlmeister), aber wann werden wir ein global player werden? Wann werden wir die politischen Konsequenzen aus unserer wirtschaftlichen Dimension ziehen?
Die politische Union muß in der Lage sein, auf der internationalen Bühne energisch zu handeln und die diplomatischen Anstrengungen der Mitgliedstaaten zu bündeln, um den Frieden zu erhalten. Sie dürfen es nicht dabei bewenden lassen, ihre Uneinigkeit festzustellen und insgeheim zu hoffen, daß die Vereinigten Staaten es schon richten werden.
So beschämend die Haltung der Europäer in der Irakkrise war – und wo alle Verantwortliche in Europa ihr mea culpa machen sollten, können wir nur erwarten und hoffen, daß jetzt ein Ruck durch den europäischen Konvent geht, der bewirken wird, daß diese Union jetzt zu einer effizienten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bis hin zu einer gemeinsamen Verteidigungspolitik zusammenrücken wird. Anderenfalls haben wir die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Ein zweiter Tätigkeitsbereich der Mitgliedstaaten ist die Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und der Justiz. Unsere Bürger haben kein Verständnis dafür, daß die Union gegen die neuen Formen der Unsicherheit, d.h., gegen die organisierte Kriminalität, den Drogenhandel, den Menschenhandel, die Geldwäsche und den Terrorismus, nichts oder nicht genug unternimmt.
Das sind allerdings besonders sensible Bereiche. Die Staaten und Regionen sind eine enge Zusammenarbeit nicht gewohnt. Europa kann die Erwartungen seiner Bürger in diesen Bereichen aber nur dann am besten erfüllen, wenn es sich zum Handeln entschließt.
Natürlich können Sie den Bürger fragen, ob er einen europäischen Superstaat will. Ich kann mir die Antwort gut vorstellen. Ich war schließlich jahrzehntelang Politiker in einem Land, dessen Menschen ebenso an ihrer Eigenart festhalten wollen wie die Menschen hier in der Bundesrepublik. Sie können den Bürger aber auch fragen, ob er mehr Sicherheit, eine effizientere Justiz, einen erfolgreichen Kampf gegen die organisierte Kriminalität, gegen die Geldwäsche und die Drogen will. Hier setzt die Antwort allerdings voraus, daß die Staaten und Regionen ihr Handeln besser koordinieren. Auch hier kann ich mir die Antwort der Deutschen wie der Luxemburger, der Franzosen oder der Katalanen gut vorstellen.
Die Verträge von Amsterdam ermöglichen bereits jetzt Fortschritte, damit Europa auf diese Entwicklungen reagieren kann, die naturgemäß keine Grenzen kennen, sondern im Schutze der fortbestehenden administrativen, rechtlichen, justiziellen und polizeilichen Grenzen der Mitgliedstaaten gedeihen.
Im Konvent müssen wir Mittel und Wege finden, noch weiter zu gehen. Die vorhandenen Möglichkeiten müssen voll ausgeschöpft werden. Europol muss ausgebaut werden. Seit Jahren wird an Gemeinschaftsprogrammen gearbeitet, um die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern.
Meine Damen und Herren,
Neben der Währungsunion und der politischen Union ist die Erweiterung der dritte Schwerpunkt auf dem Weg Europas zu einer neuen Einheit.
Zum ersten Mal seit 400 Jahren haben wir die Möglichkeit, Europa auf friedlichem und demokratischem Wege mit sich selbst auszusöhnen.
Die Erweiterung muß daher ein Erfolg werden und wir müssen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten unsere ganze Energie darauf verwenden, daß diese Erweiterung wirklich gelingt.
Heute können wir besser ermessen, welche Wegstrecke die Beitrittskandidaten schon zurückgelegt haben und welche Aufgaben noch zu bewältigen sind.
Seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime ist jedes dieser Länder nach demokratischen Wahlen von wechselnden Mehrheiten regiert worden, die nicht angefochten wurden und auch nicht zu einer Destabilisierung der Verhältnisse geführt haben. Mit Hilfe zahlreicher Abkommen über gute Nachbarschaft ist es zudem gelungen, in einer Region, in der ethnische Minderheiten nach wie vor ein heikles Problem sind, neue Konflikte beizulegen bzw. im Keime zu ersticken und im Rahmen des Stabilitätsprogramms den Schutz der Minderheiten zu gewährleisten.
In wirtschaftlicher Hinsicht hingegen bleibt noch viel zu tun, obwohl diese Länder oft um den Preis sozialer und gesellschaftlicher Veränderungen, die uns nicht gleichgültig lassen können, bereits bemerkenswerte Fortschritte erzielt haben. Ich habe eine große Hochachtung vor allen Politikern dieser Länder, die ihrer Bevölkerung mehr Opfer abverlangt haben, als wir im Westen den jedenfalls den Mut dafür gehabt hätten. Das sollte man anerkennen. Auch hier hat die Europäische Union sich solidarisch gezeigt und diesen Ländern auf beispielhafte Weise geholfen. Zweifellos haben Länder nie zuvor in diesem Maße ihre Solidarität mit anderen Ländern bekundet.
Gewaltige Anstrengungen wurden verwirklicht bei der Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes, die diesmal schwieriger ist, als bei den früheren Erweiterungen, weil der Besitzstand inzwischen gewachsen ist und sich ständig weiterentwickelt.
Zudem müssen diese Länder noch eine lange Wegstrecke zurücklegen, ehe ihre Verwaltungen auf dem gleichen Stand sind wie die Verwaltungen der Mitgliedstaaten. Denn es geht nicht allein um die Übernahme, sondern auch um die effektive Umsetzung des Besitzstandes.
Aber auch die Mitgliedstaaten müssen sich auf die Erweiterung der Union vorbereiten.
Die Erweiterung der Union wird natürlich nicht ohne Opfer möglich sein. Kann man diese Opfer der Bevölkerung von Ländern zumuten, die bereits unter der Arbeitslosigkeit zu leiden haben, die schon finanzielle Opfer bringen mußten, um die Maastricht-Kriterien zu erfüllen? Aber seien wir ehrlich: Stünden wir da, wo wir heute stehen, wenn die Gründerväter sich schon 1950 Gedanken darüber gemacht hätten, wieviel die Gemeinsame Agrarpolitik kosten würde?
Die Kommission hat übrigens zum ersten Mal keine Anhebung der Eigenmittelobergrenze vorgeschlagen, die zur Zeit bei 1,27 % des Bruttosozialprodukts der Gemeinschaft liegt. Stattdessen hat sie angesichts der neuen Aufgaben eine Reform der Gemeinschaftspolitik vorgeschlagen. So muß die Gemeinsame Agrarpolitik aufgrund der neuen Gegebenheiten wie der bevorstehenden Verhandlungsrunde in der WTO und der wachsenden Nachfrage nach biologischen Erzeugnissen umgestaltet werden. Auch die Erweiterung ist ohne Reformen nicht denkbar. aus diesen Überlegungen heraus ist schon das Reformpaket Agenda 2000 entstanden, das allerdings nicht in seiner ganzen Tragweite umgesetzt wurde.
Die heutigen Mitgliedstaaten der Union haben auch Aufgaben im institutionellen Bereich. Die Reform der Institutionen und der Funktionsweise der Gemeinschaft muß also erneut in Angriff genommen und unbedingt im Konvent vor der nächsten Erweiterung gelöst werden.
Die Union von morgen wird größer, aber auch heterogener sein, als die Gründerväter es sich vorgestellt hatten. Ganz abgesehen von den institutionellen Reformen wird sich Europa auf das Wesentliche konzentrieren und die Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten berührende Fragen wie Währung, Außenpolitik oder innere Sicherheit direkter angehen müssen. Aber hierzu muß die Handlungsweise der Gemeinschaft geändert werden, d.h., es wird weniger auf die Harmonisierung bestehender oder den Erlaß neuer Rechtsvorschriften, sondern mehr auf die Koordinierung, auf eine Annäherung der Standpunkte und auf den ständigen Dialog zwischen den Mitgliedstaaten ankommen.
Bestehende Modelle wie Föderalismus oder zwischenstaatliche Zusammenarbeit dürften sich für ein einzigartiges Projekt wie die Gemeinschaft nicht eignen. In institutioneller Hinsicht wird sich die Union nicht mit herkömmlichen Strukturen zufriedengeben können, sondern nach neuen Lösungen suchen müssen. Die Reform der Institutionen ist deshalb vor allem eine intellektuelle und erst in zweiter Linie eine politische Aufgabe. Diesbezügliche Überlegungen müssen auf einer möglichst breiten Grundlage angestellt werden, damit fruchtbare Ideen entwickelt werden können.
Globalisierung, Erweiterung, wissenschaftlich-technischer Fortschritt, neue Erwartungen und Verhaltensweisen der Bürger sowie knappe Haushaltsmittel werden die staatlichen Instanzen in den kommenden Jahren vor Probleme stellen. Die EU-Institutionen müssen darauf vorbereitet werden.
Lassen Sie mich jetzt zur vierten und letzten Herausforderung kommen:
Europa mit sich selbst aussöhnen
Denn bei einem so ehrgeizigen Projekt wie der Einigung Europas kommt es nicht allein auf das Wirtschaftliche und das Institutionelle an. Ein gemeinschaftliches Unterfangen dieses Ausmaßes ist keine rein technische Angelegenheit. Diese Erweiterung ist nicht einfach der Übergang von einem großräumigen Markt zu einem noch großräumigeren Markt, sondern ein politisches Projekt in der vollen Bedeutung des Wortes. Wenn wir dieses Projekt verwirklichen wollen, dürfen wir es nicht mit Konzepten bewenden lassen, die aus den fünfziger Jahren stammen.
Wir sind dabei, die künstliche Trennungslinie zu beseitigen, die unseren Kontinent beinahe 50 Jahre durchzogen hat. An ihrer Stelle treten mitunter andere Grenzen zutage, Identitäten geographischer, ethnischer, religiöser oder kultureller Natur. Das ist das historische Erbe Mitteleuropas, im Grunde aber ganz Europas.
Europa muß die Verbindung mit dieser Geschichte wiederherstellen. Die Gemeinschaftsmethode hat nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Aber heute gilt es, das Projekt der Europäischen Union in den Kontext der jahrhundertealten Geschichte der europäischen Staaten zu stellen. Die besonderen Verhältnisse der Gründerjahre, nämlich der Kalte Krieg und der Wiederaufbau, sind für unsere Zeit nicht mehr prägend. Die europäische Einheit muß einen neuen Sinn erhalten, der nicht mehr in der Angst vor der Sowjetunion wurzelt. Vielmehr müssen wir das Gefühl vermitteln, daß wir eine Schicksalsgemeinschaft von Völkern mit eigener Geschichte, einem Selbstverständnis und eigenen Vorstellungen sind. Eine Gemeinschaft, die in einer Welt neuer Machtkonstellationen aber gleichlaufende Interessen verfolgt.
Damit die Europäische Union wieder ein wirklich politisches Projekt wird, müssen wir uns davor hüten, in “Europa” die Wurzel aller Übel oder das Allheilmittel zu sehen. Die Europäische Union macht nationale Politik keineswegs überflüssig. Die Nationalstaaten haben auch heute noch die Aufgabe, sich nationale Ziele zu setzen. Aber sie müssen bereit sein, diese Ziele gegebenfalls in einen europäischen Rahmen einzufügen und die Verantwortung dafür auch ihren Völkern gegenüber zu übernehmen.
Gestatten Sie mir abschließend die Bemerkung, daß die Aussöhnung Europas mit sich selbst noch einen weiteren Sinn hat, nämlich auch die Aussöhnung der Europäer mit ihrer Vergangenheit.
Wir Europäer müssen bereit sein, unsere Geschichte aus der Distanz, die allein einen klaren Blick ermöglicht, nüchtern zu betrachten. Europa hat sich immer dann als ein großer Kulturraum erwiesen, wenn es seinen traditionellen Werten treu geblieben ist. Europa braucht keinen Katalog abstrakter, realitätsferner Werte, die auf einer idealisierten Vergangenheit oder Zukunft beruhen, sondern muß den mühseligen, aber erfolgversprechenden Weg weitergehen, den die Gründerväter der Gemeinschaft vorgezeichnet haben, d.h. tagtäglich dem gemeinsamen Interesse der Mitgliedstaaten dienen und unser Handeln an den jeweiligen Gegebenheiten ausrichten.
Dabei sind die europäischen Institutionen natürlich wichtig. Noch wichtiger aber sind die Menschen. Nach der Generation der Gründerväter, einiger willensstarker Visionäre, hat die darauffolgende Generation die ursprünglichen Konzepte in ihrer Weise weiterentwickelt. Die Europäer der neuen Generation empfinden gleichzeitig Heimatverbundenheit und Solidarität mit ihren europäischen Partnern.
Es ist dieses ausgewogene Gefühl das uns dabei helfen wird, die Herausforderungen der nächsten 50 Jahre zu bewältigen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ansprache von Herr Santer bei der Stiftung Internationaler Karlspreis zu Aachen – Juni 2003 – es gilt das gesprochene Wort.
Ansprache von Herr Santer bei der Stiftung Internationaler Karlspreis zu Aachen Juni 2003 – es gilt das gesprochene Wort.