Auf die österreichische Gefühlslage Rücksicht nehmen

Eine Interview von Doris Kraus in der österreichischen Tageszeitung “Die Presse”.

“Die Presse”: 1997 waren Sie der Meinung, dass die Erweiterung das unpopulärste EU-Vorhaben werden wird. Trifft das noch zu?

Jean-Claude Juncker: Ich habe nicht den Eindruck, dass die Zustimmung zur Erweiterung seit dem Grundsatzbeschluss 1997 größer geworden ist. Ich stelle vielerorts eine Art Europamüdigkeit ohnehin und eine Erweiterungsfaulheit im besonderen fest. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass einige die Finanzierung der Erweiterung in den Mittelpunkt stellen und diesen historischen Moment völlig im Hintergrund verschwinden lassen.

Wird diese Finanzdebatte übertrieben?

Juncker: Ich halte sie für berechtigt, finde aber, dass sie manchmal kapriolenhafte Züge annimmt. Die Erweiterung wird keineswegs einen Finanzierungsschock auslösen. Für relativ wenig Geld bekommen wir sehr viel Stabilität und Sicherheit.

Österreich hat ein spezifisches Problem mit der Tschechischen Republik, die Benes-Dekrete. Hielten Sie eine politische Geste Tschechiens hier für wünschenswert?

Juncker: Ich hielte dies für wünschenswert, sehe aber angesichts der tschechischen Befindlichkeit in dieser Frage diese Geste nicht vor dem EU-Beitritt. Es ist klar, dass die Benes-Dekrete den Beitritt der Tschechischen Republik zur EU nicht behindern. Aber wenn man die Erweiterung der EU nach Ost- und Mitteleuropa als den endgültigen Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg begreift, muss man auch mit einem festen Blick nach vorn die Restprobleme aus der Vergangenheit einvernehmlich – nicht rechtlich, aber gefühlsmäßig – abhaken.

“Nicht vor EU-Beitritt” heißt in dem Fall 2004?

Juncker: Ja. Ich halte es nicht für möglich, dass die Tschechen das vorher tun. Ich finde schon, dass man auch auf die österreichische Gefühlslage Rücksicht nehmen muss. Aber ich glaube, dass die Österreicher sehr gut verstehen, dass sich mit dem Beitritt der Moment rasch ergeben wird, wo man diese Frage lösen kann.

Bisher war Österreich der Staat der Erweiterungsskeptiker. Jetzt bekommen wir mit Holland und Frankreich Gesellschaft. Fürchten Sie Probleme bei der Ratifizierung?

Juncker: Die Österreicher haben ja immer die Nase vorn. Sie waren die ersten, die von der Notwendigkeit der Erweiterung geredet haben, und zwar Jahre, bevor sie selbst Mitglied der EU waren. Dann fanden sich viele Österreicher sehr rasch im Lager der eher grantigen Skeptiker wieder.

Sehen Sie ein Problem mit Frankreich?

Juncker: Die französische Öffentlichkeit hat in unzulänglicher Form zur Kenntnis genommen, dass sich die EU erweitert. Es gibt in Frankreich ein grundsätzliches Defizit bei der Europadebatte.

Kann die EU zehn neue Mitglieder institutionell und emotionell verkraften?

Juncker: Es wird ja nur 75 Millionen neue EU-Bürger geben. Dies wird also kein unwahrscheinlicher demographischer Schock werden. Allerdings wird sich die europäische Vielfalt der Kulturen, Meinungen und Befindlichkeiten um viele Elemente anreichern. Das müssen wir mental und gefühlsmäßig verarbeiten. Und dann müssen wir diese neue Vielfalt institutionell abarbeiten.

Was passiert, wenn die Iren am 19. Oktober nein zu Nizza sagen?

Juncker: Wenn die Iren nein sagen, wird es keine Erweiterung zu den festgelegten Terminen geben. Das muss jeder Ire wissen, der seinen Stimmzettel in die Urne wirft. Das ist kein Spiel. In Ost- und Mitteleuropa würden sich viele bei einem negativen Votum der Iren enttäuscht und verraten fühlen.

Kann die Erweiterung sonst noch an etwas scheitern?

Juncker: Nein, ich sehe das nicht. Aber unsere Anstrengungen dürfen nicht erlahmen. Wir müssen das Agrarpaket vor der endgültigen Beschlussfassung im Dezember in Kopenhagen schnüren, wir müssen das Finanzpaket auf den Weg bringen und wir müssen bei jedem Schritt daran denken, dass in jedem Beitrittsland per Referendum über den Beitritt abgestimmt wird. Daher müssen wir die Beitrittsländer mit angemessener Würde behandeln.

Und die Türkei? Wäre es nicht ehrlicher, klar zu sagen, dass ein Beitritt unrealistisch ist?

Juncker: Ich habe mich 1997 deutlich zur Frage des Türkei-Beitritts geäußert (und zwar ablehnend, Anm.). Das hat mir viel Ärger eingebracht, in der Türkei und in der EU. Deshalb würde ich es gerne bei dem Satz belassen, dass wir zur Türkei sehr enge Beziehungen unterhalten sollen, aus vielen Gründen, darunter auch geostrategischen. Man sollte sich aber überlegen, auf wie viel Zustimmung Europa in 30 Jahren noch zählen könnte …

… wenn die Türkei Mitglied wird?

Juncker: Ich spreche mich nicht gegen den EU-Beitritt der Türkei aus.

Was halten Sie denn von der Idee eines EU-Präsidenten?

Juncker: Derzeit wüsste ich nicht, was dieser Präsident zu tun hätte. Ich bin sehr empfänglich für das Argument, dass Europa ein Gesicht nach innen und nach außen braucht, hätte aber nur gern, dass dieses Gesicht auch den Mund aufmacht. Ich habe überhaupt nicht das Bedürfnis, mich im Europäischen Rat mit dem Pantomimenspiel eines Vorsitzenden beschäftigen zu müssen, von dem niemand weiß, ob er auch reden kann.

(Oktober 02 – aus “Die Presse”)