Mit dem Vertrag von Nizza neigt sich für die Europäische Union eine Zwischenzeit dem Ende zu und es entstehen neue Antworten auf die Schicksalsfragen Europas. Die Geschichte gönnt Europa keine Atempause. Es ist Zeitenwende in Europa. Mit dem Übergang in ein neues Jahrtausend muss die Europäische Union als Trägerin der gesamteuropäischen Erwartungen jedoch auch eine Reihe Herausforderungen bestehen, um auch im neuen Jahrhundert weiter erfolgreich zu funktionieren. Zunächst erfordern die Modernisierung der Wirtschaft und die Neuordnung der Institutionen tiefgreifende Reformen. Dann wird im Blick auf die kommenden zehn Jahre deutlich, dass das große Europa mit wachsender Ausdehnung zugleich auch ambivalenter wird. Es rückt näher zusammen und wird damit auch konfliktträchtiger. Bereits heute sind die Defizite in der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union offenbar. Europa im Zwiespalt zwischen Integration und Staatsraison Europa steckt im Zwiespalt zwischen historisch gewachsenen Staatstraditionen und zukunftsweisenden Möglichkeiten der Integration. Zwei Projekte stehen symbolisch für die künftigen Möglichkeiten der Integration: Die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion und die Vollendung der Einheit Europas durch die Osterweiterung. Mit voranschreitender Vollendung präzisieren beide Projekte die früher eher vage anmutende Vorstellung von der Finalität des Integrationsprozesses. Europas politische Einheit wird nicht aus der Macht einzelner Mitgliedstaaten entstehen, sondern aus dem Markt und der Behauptung des europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells in einer globalisierten Weltwirtschaft. Doch auch heute noch kalkulieren maßgebliche Akteure ihre Interesse ausschließlich als Staaten. Die Bedeutung der gemeinsamen Institutionen geht zurück. An der Schwelle zur Neuordnung Europas scheint nun kurzfristig die Geschichte des Kontinentes wieder zurück zu kehren: Nie seit den fünfziger Jahren war das Maß der Integration größer als heute, und doch war die Vorstellung von der gemeinsamen Zukunft zu keiner Zeit diffuser als in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts. Die politische Entscheidung zur Zukunft der Union Real betrachtet ist Europa heute jedoch ein Raum unbegrenzter Möglichkeiten. Die kommenden zehn Jahre machen historische Schritte zur Vollendung der Integration notwendig: Was bisher als ferne Zukunft und abstraktes Zielbild der Integration vage beschrieben bleibt, steht bald zur politischen Entscheidung. Die Staats- und Regierungschef der Europäischen Union haben auf ihrem Gipfel in Nizza im Dezember 2000 außer dem Minimalvertrag zur Reform der Institutionen zugleich auch eine Erklärung zur Zukunft der Union angenommen, die einige der wesentlichen Zukunftsfragen zur Diskussion freigibt. Zur Klärung dieser Fragen hat der Folgegipfel in Laeken, im Dezember 2001, einen sogenannten Konvent zur Zukunft Europas eingesetzt, der sich aus Vertretern der Staats- und Regierungschefs, der nationalen Parlamente und der europäischen Institutionen zusammensetzt. Die Erklärungen von Nizza und Laeken geben den Anstoß zu einem Prozess, dessen Ergebnis durchaus die Antworten zu jenen Schicksalsfragen liefern könnte, die Europa seit nunmehr einem Jahrzehnt beschäftigen. Vier Grundfragen werden in diesem Prozess zu klären sein: ß wer macht was in der Europäischen Union? ß welcher Instrumente darf sich die Union bedienen? ß wie wird die Union demokratischer, transparenter und effizienter für den Bürger? ß eine Verfassung für den europäischen Bürger? Liest man die Erklärung von Robert Schuman 50 Jahre nach ihrer Bekanntgabe, so geht es bei diesem Prozess im Wesentlichen eigentlich nur um eine Frage: Ist es im Sinne der Ansätze der Gründerväter, zu denen bekanntlich auch Joseph Bech gehört, möglich, die europäischen Nationalstaaten zu einer echten Föderation sui generis zusammen zu schließen? Wird dies von den Europäern selbst gewünscht, wo die Entstehung der Nationalstaaten doch auch eine Widerspiegelung des Bewusstseins der Mitglieder europäischer Völker, ihres Zugehörigkeitsgefühls zu einer bestimmten Gemeinschaft ist? In diesem Sinne wird der Konvent zur Zukunft Europas nicht nur die oben angeführten institutionellen Schicksalsfragen zu klären versuchen, sondern auch die europäische Identität der Bürger festigen und ein neues Zugehörigkeitsgefühl entstehen lassen. Errungenschaften pflegen und weiterentwickelen Die neue Generation europäischer Politiker ist frei von der historischen Erfahrung der Generation, die sich der Gefahren bewusst war, die die Abkehr vom Integrationsprozess in Europa mit sich bringen würde. Frieden, Stabilität und Wohlstand gelten heute in Europa als selbstverständlich. Doch müssen auch die grundsätzlichen Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses gepflegt und weiterentwickelt werden. Für einen europäischen Beitrag zur Weltpolitik braucht der Kontinent immer noch eine Idee von sich selbst, denn Integration bedeutet zunächst Teilnahme an und in einer Schicksalsgemeinschaft. Somit liegt die wahrhaftige Aufgabe des Konvents zur Zukunft Europas vorrangig darin, den Europäern zu verdeutlichen, dass ihre wirtschaftlichen und politischen Bedürfnisse, Interessen und Ziele, und damit auch ihre Zukunft, zunehmend aneinander gebunden sind.
Jacques Santer