“Für eine Union gemeinsamer Werte”
Berliner Dokument der Europäischen Volkspartei
Der 14. EVP-Kongress wurde Mitte Januar 2001 in Berlin mit der Annahme des Dokuments “Für eine Union gemeinsamer Werte” abgeschlossen, womit das alte Athener Grundsatzprogramm der europäischen Christdemokraten aus dem Jahr 1992 modernisiert wird, so das Luxemburger Wort in seiner Berichterstattung.
Hier der Wortlaut des Papiers: “Die Europäische Volkspartei erkennt die Fortschritte im Bereich der institutionellen Reformen an, die in Nizza erreicht wurden. Sie ist: jedoch überzeugt,. dass diese ungenügend sind, um ein demokratisches und transparentes Europa zu schaffen, das handlungsfähig ist. Der Vertrag von Nizza erlaubt der Union die Aufnahme neuer Mitglieder ab dem Jahre 2003. Um die Europäische Einigung zu vollenden müssen weitere tiefgreifende Reformen auf unserer politischen Agenda stehen.
Der Zweck dieses Berliner Dokumentes ist die Förderung der Diskussion zu den genannten Themen innerhalb der EVP und ihrer Mitgliedsparteien in der Folge des Berliner Kongresses. Die EVP betrachtet dieses Dokument als einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte.
Mit der Wiedervereinigung unseres gesamten Kontinents beginnt die Europäische Union, den Wunsch zu realisieren, alle Bürger Europas zu vereinen und damit ihre endgültige geographische Gestalt anzunehmen. Zugleich tritt die Europäische Union in den Prozess zur Bestimmung ihrer inneren Gestalt, ihrer Verfasstheit ein. Um beides zu bestimmen, muss die Europäische Union ihr Selbstverständnis definieren. Das erfordert, vorab zu klären, was sie ist und was sie will, um dann ihren Aufbau zu bestimmen. Europa kann daher nicht durch Verhandlungen hinter verschlossenen Türen vollendet werden. Europas Zukunft muss in öffentlichen Debatten, in denen die europäischen Völker ihre Vorstellungen von einer besseren und gemeinsamen Zukunft wie ihre Sorgen zum Ausdruck bringen, gestaltet werden. Hierzu will die Europäische Volkspartei ihren Beitrag leisten.
1. Die Europäische Volkspartei will die Zukunft der Europäischen Union gestalten, indem sie ihr Selbstverständnis definiert. Europas Völker müssen sich auf ihre gemeinsamen Wurzeln besinnen und ihre künftigen gemeinsamen Ziele bestimmen.
Die europäische Einigung ist eine Erfolgsgeschichte. Das Zusammenwachsen Europas zu einer politischen und wirtschaftlichen Union neuer Art hat den Völkern Europa seine nie gekannte Periode des Friedens, der Stabilität und des Wohlstands beschert. Die europäischen Völker haben sich in freier Selbstbestimmung einem gemeinsamen Recht unterworfen, um – unter den Bedingungen einer globalisierten Wirklichkeit – ihre Vorstellungen von einer starken Wirtschaft und zugleich solidarischen Gesellschaft verwirklichen zu können. Das ist das “Europäisches Modell”, das zugleich Vorbild für und Beitrag zu einer besseren Welt ist. In unserem Programm “A Union of Values” haben wir seine wesentlichen Elemente näher beschrieben.
Die europäischen Völker teilen ein gemeinsames geistig-kulturelles Erbe, das auf der griechisch-römischen Philosophie, der christlichen Botschaft und den jüdisch-christlichen Werten beruht und von der Antike über das Mittelalter, die Renaissance und die Aufklärung bis heute fortwirkt. Sie teilen auch eine gemeinsame europäische Geschichte, auf die sie trotz leidvoller Abschnitte stolz sein können. In einem langen und oftmals konfliktreichen historischen Prozess haben sich die europäischen Völker und Nationen gebildet und geformt. Sie sind die historisch gewachsene politische Grundlage Europas und das Fundament seines kulturellen und geistigen Reichtums.
Die Vielfalt der europäischen Völker, Nationen und Regionen zu erhalten und zugleich ihrer Zusammenarbeit durch die Vollendung des Prozesses der europäischen Integration eine neue politische Form zu geben ist die zentrale Herausforderung der Zukunft. Die Europäische Volkspartei ist der festen Überzeugung, dass die Bestimmung des Gemeinsamen, das europäische Selbstverständnis, die Grundlage für die Bestimmung der politischen Gestalt Europas sein muss. Der Erfolg von fünfzig Jahren Integration und politischer Zusammenarbeit in der Europäischen Union gründet sich auf der Gemeinschaftsmethode, die ihre Wurzeln in den Römischen Verträgen und ihren Nachfolgern hat. Ihr politischer Wille zur Schaffung von Freiheit, Frieden und Demokratie und die Errungenschaften der Sozialen Marktwirtschaft zur Förderung des Wohlstandes machen diese Ziele für alle erreichbar und sind Teil unseres politischen Erbes.
2. Die Europäische Volkspartei will die äußere Gestalt, das heißt die geographische Ausdehnung der Europäischen Union, bestimmen, weil sie ein maßgebliches Element ihres Selbstverständnisses ist. Grenzenlosigkeit ist Selbstverlust.
Die Europäische Union steht vor der größten Erweiterungswelle ihrer Geschichte. Bis zu 12 Staaten Mittel-, Ostund Südeuropas werden voraussichtlich in den nächsten Jahren beitreten. Die Erweiterung wird das Gesicht der Union erheblich verändern. Die Wiedervereinigung Europas ist eine moralische und historische Aufgabe. Dieser Prozess ist im Interesse aller Europäer und wird Freiheit Solidarität, Demokratie und Wohlstand auf unserem Kontinent stärken und damit den Frieden bewahren. Die Europäische Union wird dann bis zu 27 Mitgliedstaaten umfassen, die willens sind, die Ziele der Verträge und den gemeinschaftlichen Besitzstand mit allen seinen Konsequenzen zu übernehmen. Weitere Staaten werden diese Perspektive in den nächsten Jahren einfordern. Dies bedeutet aber, die geographische Gestalt der EU auf Dauer offen zu lassen. Europa braucht jedoch Gewissheit über sich selbst, die geographische Ausdehnung der EU darf ihre Integrationskraft nicht überfordern. Wir fordern daher, die Grenzen der EU klar, aber offen zu ziehen, z. B. durch das Angebot von Formen institutionalisierter Kooperation an Staaten, die dauerhaft nicht als Vollmitglieder aufgenommen werden wollen oder können.
3. Die Europäische Volkspartei will die innere Gestalt der Europäischen Union in einem Verfassungsvertrag vollenden.
Europas Stärke und Reichtum ist die Vielfalt seiner Völker, Sprachen, Traditionen, Kulturen und nationaler Identitäten. Die innere Gestalt der Europäischen Union muss dieser Vielfalt Rechnung tragen, sie schützen und als Motor der europäischen Entwicklung nutzen. Auch deshalb darf Europa nicht alles regeln und bestimmen wollen, sondern muss auf den Prinzipien von Subsidiarität, Solidarität und Wettbewerb aufgebaut werden. Europa muss sich als Lerngemeinschaft verstehen, wobei es darum geht, auf der Suche nach dem “besten” Weg von den anderen zu lernen. Zugleich muss die Europäische Union in den Bereichen, in denen sie die volle politische Verantwortung zugewiesen erhält, stark und handlungsfähig sein. Europa muss die Richtung in diesen Bereichen vorgeben.
Europas Verfasstheit wird sowohl auf getrennten als auch geteilten Kompetenzen aufbauen. Auf europäischer Ebene ist die Kompetenz bzw. die Richtungsvorgabe in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik, Asyl- und Einwanderungspolitik, dem grenzüberschreitenden Umweltschutz, der Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität, der Sicherung des Binnenmarkts und der Währungsunion sowie der Außenhandelspolitik anzusiedeln. Alle weiteren Bereiche verbleiben in der Verantwortung der Mitgliedstaaten und deren politischen Ebenen. Dies bedeutet, dass in Fällen geteilter Verantwortung – wie z. B. im ökonomischen Bereich – alle gemeinsam die Richtung bestimmen, jeder für sich aber den Weg.
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihre nationalen Parlamente müssen die alleinige Zuständigkeit zur Übertragung von Kompetenzen auf die europäische Ebene behalten.
Die Europäische Union ist eine neuartige Form der Organisation politischer Macht. Sie findet ihren Ausdruck. in einem Verfassungsvertrag, der neben der Kompetenzregelung auch die Grundrechtecharta, die Institutionen und Verfahrensregeln sowie die Finanzordnung der EU umfassen soll, die – ausgerichtet an den Prinzipien der Transparenz, der Effizienz und der gerechten Lastenverteilung zu reformieren ist. Transparenz und Effizienz müssen such die Leitprinzipien für die Überarbeitung der EU-Verfahrensregeln mit dem Ziel einer Stärkung der demokratischen Kontrolle und Legitimität sein. Das Verhältnis zwischen den europäischen Institutionen Parlament, Rat, Kommission, Gerichtshof – muss durch klare Zuständigkeiten geklärt werden. Dieses ist neben der Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und ihren Mitgliedsstaaten das Fundament der Demokratie.
Wir fordern daher im Rahmen eines europäischen Verfassungsvertrags eine klare Zuweisung der politischen Verantwortung und Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten, aber auch zwischen den verschiedenen Institutionen der EU vorzunehmen. Mit einer Ausarbeitung ist sofort zu beginnen. An ihr müssen auch Beitrittsländer beteiligt werden.
4. Die Europäische Volkspartei will die Rolle der Europäischen Union in der Welt bestimmen. Auch in ihrem Verhältnis zu den anderen Mitgliedern der Völker- und Staatengemeinschaft findet sie zu sich selbst.
Die Europäische Union ist in der Weltwirtschaft der mächtigste und größte Faktor neben den USA. Sie spielt insofern schon heute eine verantwortliche Rolle in der internationalen Politik. Schon das erfordert von ihr; größere Verantwortung auch auf anderen Feldern der Außenpolitik einschließlich der Sicherheit zu übernehmen. Nur so kann sie auch ihren Interessen und denen ihrer Völker gerecht werden. Die Europäische Union muss ein mit einer Stimme sprechender außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischer Akteur werden. Hierbei ist auf eine Stärkung der Gemeinschaftsinstitutionen gegenüber intergouvernementalen Ansätzen zu achten.
Ihrer weltweiten Verantwortung wird die EU vor allem durch ihren Einsatz für die Achtung der Menschenrechte, der Förderung von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft und durch ihre Beiträge zur Entwicklung einer globalen Rechtsordnung und der Verminderung von Hunger und Armut weltweit gerecht. Die EU kooperiert mit regionalen Zusammenschlüssen und fördert sie.”