Grenzen sind auch eine Frage der Identität
Die EU braucht ein “grand design” für das 21. Jahrhundert -eine Grundsatzdebatte über eine “Neugründung”
Premierminister Jean-Claude Juncker in der Frankfurter Rundschau
Ich höre und lese immer wieder, die europäische Integrationspolitik leide unter einem Mangel an Visionen. Schuld an diesem Mangel an Visionen sind, wie sollte es auch anders sein, natürlich wir Europapolitiker. Und wenn dann doch der eine oder andere von uns europapolitische Visionen hat; so möchte man ihn mit Helmut Schmidt am liebsten schnell in die Obhut eines Arztes geben. Aus vielen Gesprächen mit Kollegen aber weiß ich, dass es uns Europapolitikern …
… keineswegs an Visionen fehlt, …
… und schon gar nicht an sehr konkreten Ideen und Vorstellungen, die sich zum Teil bereits auf dem Weg der Verwirklichung befinden. Da aber die Europa- beziehungsweise die Integrationspolitik seit jeher eine Politik der kleinen Schritte ist, hat sie es oft schwer, Schritt zu halten mit unserer äußerst schnelllebigen Zeit, in der scheinbar nur noch das, was schnelle Ergebnisse zeitigt, eine wirkliche Daseinsberechtigung hat und die Aufmerksamkeit der großen Massen auf sich zieht. Dabei weiß doch jeder, dass auch Rom nicht an einem Tag erbaut wurde.
Wer sich einmal ein Haus gebaut hat, weiß ebenfalls, dass zwischen dem Entschluss zu bauen und dem Tag, an dem der Einzug in das fertig gestellte Eigenheim stattgefunden hat, Monate, wenn nicht Jahre gelegen haben.
Der Bau am gemeinsamen Haus Europa …
… braucht ebenfalls seine Zeit, nicht zuletzt deshalb, weil während der Bauphase nicht nur die Pläne immer wieder geändert werden müssen. Durch die geopolitischen Umwälzungen auf unserem Kontinent hat die europäische Familie großen Zuwachs bekommen. Viele der neuen Familienmitglieder erwarten, dass auch sie ihr eigenes Zimmer in dem neuen europäischen Haus erhalten. Sie haben nahezu alle ein legitimes Anrecht auf ein solches Zimmer und können es kaum erwarten, dieses Zimmer zu beziehen. Die Bauherren aber wissen, dass man nicht von heute auf morgen beliebig viele Zimmer dazubauen kann, ohne die Statik des Gebäudes nachhaltig zu gefährden. Sie wissen aber auch, dass kein Weg daran vorbeiführt, die Grundmauern des jetzigen Gebäudes derart zu stabilisieren, dass der Ausbau des Hauses zwecks Schaffung zusätzlichen Wohnraums die Gesamtkonstruktion später nicht zum Einsturz bringen darf.
Und Pläne für die neue Bauphase, die im Bauplan unter “Vertiefung und Erweiterung” figuriert, haben sie allemal.
Die europäische Integrationspolitik …
… leidet also keineswegs an einem Mangel an Visionen, sondern vielmehr an der momentan noch zu geringen Bereitschaft ihrer Akteure, die Enge der Debatten und Diskussionen über die künftige Gestalt und Gestaltung Europas zu überwinden.
Werner Weidenfeld meinte einmal, die EG neige zu wehmütigen Rückblicken; sie tendiert aber meines Erachtens ebenso stark zu wehmütigen Ausblicken in die Zukunft. Hier herrscht also akuter Handlungsbedarf. Mit anderen Worten: Eine der wichtigsten Aufgaben künftiger Europapolitik besteht darin, die Europa-Debatte wieder auf ein der Herausforderung, dem Auftrag und dem Ziel, das heißt auf ein der Einigung Europas angemessenes und würdiges Niveau zu bringen. Dies lässt sich allerdings nur dann bewerkstelligen, wenn bei allen interessierten und implizierten Akteuren die uneingeschränkte Bereitschaft besteht, auch und gerade jene Themen und Fragenkomplexe an- und auszudiskutieren, die für die künftige Ausrichtung der europäischen Integrationspolitik und die zukünftige Gestalt(ung) der Europäischen Union von hochgradiger Relevanz sind.
Die Europäische Union steht unweigerlich…
… vor großen internen Veränderungen und befindet sich zudem in einem geopolitisch vollkommen veränderten Gesamteuropa. Vor allem die radikalen Umwälzungen von 1989190 verlangen nach genauso radikalen Konsequenzen. Sie zwingen die EU nicht nur zum Umdenken und zum Aufgeben von bislang gültigen Denkmustern; sie lassen auch vieles bis dato europapolitisch Unumgängliche obsolet und manches integrationspolitisch Notwendige wie einen Neubeginn erscheinen. Mit einer ebenso dringend erforderlichen wie gut ausgewogenen Grundsatzentscheidung über die künftige Gestalt der Europäischen Union, der eine ebenso gut balancierte Grundsatzdebatte über die gleiche Fragestellung vorausgehen muss, könnte die EU also in gewisser Weise “neu gegründet” werden.
Nichtsdestotrotz bleibt die europäische Herausforderung grundsätzlich die gleiche wie in den Anfangstagen der europäischen Einigungsbestrebungen. Ein geeintes Europa kann auch heute nur, wie Robert Schuman am 9. Mai 1950 bei der Präsentation seines Plans zur Gründung der EGKS meinte, “durch konkrete Tatsachen entstehen”. Dennoch brauchen wir ein neues “grand design” für das Europa des 21. Jahrhunderts. Und da jeder große architektonische Entwurf zunächst einmal in den Köpfen entsteht, sollten alle betroffenen europapolitischen Akteure baldmöglichst ihre hochpolitischen Köpfe zusammenstecken, um – das Wortspiel sei erlaubt -integrationspolitische Designer-Nägel mit Köpfen zu machen.
Was aber heißt das nun konkret?
Und wie könnte ein solches “grand design” für das Europa des 21. Jahrhunderts aussehen, das sich dann auch durch die von Robert Schuman erwähnten “konkreten Tatsachen” in die Wirklichkeit umsetzen lässt? Nun, Grundlage für ein solches “grand design” ist natürlich die geplante Erweiterung der Europäischen Union.
Die EU- Erweiterung ist allerdings…
…nicht nur eine von vielen konkreten Tatsachen, die zum Werden Europas beitragen. Sie ist ohne Zweifel die wichtigste Aufgabe, die die Union in den kommenden Jahren erledigen muss. Die uns aufgetragene Mission – und ich verwende hier ganz bewusst diese religiös untermalte Vokabel – ist keineswegs eine “mission impossible” wie manche pessimistischen Zeitgenossen uns gelegentlich glauben lassen wollen. Ein heikler, delikater Auftrag aber ist diese Mission allemal, weil sie einerseits äußerst unpopulär (aber welche bedeutendere integrationspolitische Maßnahme war zu dem Zeitpunkt, als sie getroffen wurde, schon populär?) und andererseits auch sehr unbequem ist. Obwohl sie wahrscheinlich die bedeutendste friedenssichernde Maßnahme im postkommunistischen Europa sein wird, ist und bleibt die Erweiterung dennoch eine höchst unpopuläre politische Mission, weil sie Angst macht. Sie macht Angst wegen ihrer enormen Ausmaße. Der Beitritt der MOE-Staaten und Maltas wird das ‘Territorium” der EU um 38 Prozent vergrößern und ihre Bevölkerung um 28 Prozent wachsen lassen. Das Bruttoinlandsprodukt der EU wird hingegen nur um knapp acht Prozent ansteigen.
Die geografische und demographische Ausweitung der EU…
… steht demnach in einem schlecht ausbalancierten Verhältnis zur Steigerung des Wohlstands in der Union. Ihre Erweiterung stößt deswegen in einigen EU-Mitgliedstaaten auf, gelinde ausgedrückt, nicht sonderlich große Begeisterung.
Viele sehen in den MOE-Staaten, deren Wiedergeburt vor einigen Jahren noch mit frenetischem Beifall begrüßt wurde, eine reelle Bedrohung für ihren mühsam erarbeiteten Wohlstand. Dabei übersehen sie aber, dass gerade die vermeintliche Absicherung ihres Wohlstands durch autoprotektionistisches Gehabe diesen in weitaus stärkerem Maße gefährdet als seine sich heute schon abzeichnende Wahrung und Festigung durch altruistisch-solidarisches Handeln gegenüber den EU- Beitrittskandidaten. Mit anderen Worten: Der Beitritt der MOE-Staaten zur Europäischen Union gefährdet nicht unseren Wohlstand, sondern sichert diesen erst wirklich und langfristig ab.
Sinnen wir in Zukunft auf der Basis der eben vorgebrachten Argumente über die EU-Erweiterung nach, dann könnte sie im Laufe der Zeit ihren momentan noch recht hohen Unpopularitätsgrad einbüßen und zu dem projekt mobilisateur, also zu dem zukunftsweisenden Projekt, avancieren, das aus einer Wirtschaftsgemeinschaft mit politischem Überbau eine politische Union mit wirtschaftlichem Unterbau werden lässt.
Aber auch im Falle einer derartigen Neuorientierung der Erweiterungsdebatte bleibt der Auftrag zur EU-Erweiterung unbequem. Unbequem deshalb, weil er den EU-Mitgliedstaaten eine Grundsatzdebatte geradezu aufzwingt, die diese so eigentlich gar nicht führen wollen. Gemeint ist eine Grundsatzdebatte über die Grenzen der Europäischen Union, deren Ergebnisse und Schlussfolgerungen dann die zweite Grundlage wären für das noch auszuarbeitende “grand design” für das Europa des 21. Jahrhunderts.
Und wenn hier nun von Grenzen die Rede ist, dann sind nicht nur die geografischen Grenzen der Europäischen Union, sondern auch die Grenzen ihrer Aufnahme- und ihrer Leistungsfähigkeit gemeint.
Die Frage, welche europäische Staaten außer den momentan zwölf Beitrittskandidaten …
… ebenfalls noch in die Europäische Union aufgenommen werden soll(t)en, wird sich nicht erst nach dem Beitritt dieser Kandidatenländer stellen. Sie stellt sich auch nicht erst jetzt, sondern sie steht bereits seit längerer Zeit im Raum und harrt dringend einer Beantwortung. Dringend deswegen, weil die EU nicht uneingeschränkt wachsen kann, ohne sich darüber im Klaren zu sein, wie groß sie tatsächlich werden kann, ohne irgendwann an ihre Leistungsgrenzen zu stoßen, von denen ja in ganz erheblichem Maße ihre künftige Rolle in Gesamteuropa und in der Welt abhängt.
Dringend aber auch, weil alle beitrittswilligen und an einer EU-Mitgliedschaft interessierten Länder ein Anrecht darauf haben zu wissen, ob sie sich Hoffnungen auf einen späteren Beitritt beziehungsweise auf eine Vollmitgliedschaft machen können, oder aber ob sie ihr Verhältnis und ihre Beziehungen zur Union überdenken und gegebenenfalls neu definieren müssen.
Dringend schließlich, weil auch alle nichteuropäischen Partnerstaaten der EU, allen voran die USA, daran interessiert sind, zu welcher Art von Gebilde die EU sich künftig entwickeln möchte beziehungsweise entwickeln wird. Mit der Frage nach den geografischen Grenzen der EU ist demnach nicht nur die Frage der zukünftigen Mitgliederzahl der Union angesprochen, sondern auch die Frage ihrer Identität und natürlich auch die Frage nach ihrer Funktions- und Handlungsfähigkeit; denn eine unkontrolliert wachsende EU riskiert, ein unbewegliches Mastodon zu werden, das wohl auf lange Sicht das gleiche Schicksal erleiden wird wie alle überdimensional groß gewordenen Gebilde.
Erweiterung der Europäischen Union und Ausweitung der europäischen Debatte auf die Frage nach den Grenzen der EU -so lautet die Mission für die kommenden Jahre. Eine Mission ist, laut Wörterbuch, ein “ernster Auftrag”. Nehmen wir also die uns aufgetragene Mission ernst und arbeiten wir, gemäß dem Auftrag der Gründungsväter, weiter am europäischen Einigungswerk, damit aus der EU nicht ein nur ab und zu auch außenpolitisch aktiver Binnenmarkt wird, sondern eine wirkliche politische Union und eine echte Werte- und Solidargemeinschaft.