Luxemburg steht auf roten Listen, seine Einwohner sind in der halben Europäischen Union nicht mehr willkommen. In Rosport, der Stadt Luxemburg und anderswo gehen mehr oder weniger jugendliche Banden mit bisher hierzulande nicht erlebter Gewalt aufeinander los. Die Regierung hat die Staatsfinanzen im Verlauf der letzten sieben Jahre dermaßen verlottern lassen, dass bereits im April Geld geliehen werden musste, um die Beamtengehälter für Mai bezahlen zu können. Diese Eckdaten beschreiben den Zustand unseres Landes zu just dem Zeitpunkt, an dem der letzte Schritt der Öffnung unseres gesellschaftlichen Funktionierens getan werden soll: im neuesten „Covid-Gesetz“ ist vorgesehen, dass alle Sportarten wieder praktiziert werden können. Auch jene mit intensivem Körperkontakt.
Während die Regierung morgen darüber sinnieren will, ob wieder Einschränkungen notwendig sind, um der Ausbreitung des Virus Herr zu werden, ließ sie vorgestern eine weitere Öffnung beschließen. Eigenartig? Unkohärent? Sehr wohl. Wie so vieles seit dem Ende des Krisenzustandes, der dadurch vieles weniger problematisch erscheinen ließ, als es tatsächlich ist, dass es eben nicht im parlamentarischen und also öffentlichen Raum diskutiert zu werden brauchte. Die unzähligen Pressekonferenzen der Regierung waren in ihrer zunehmenden Fahrigkeit wohl Vorboten des sich nun darstellenden Kontrollverlusts. Tatsächlich haben die Regierenden nichts mehr im Griff.
Seit dem Beginn des „Déconfinement“ sollte die Regel gelten, dass Regeln gelten. Regeln, die unser Zusammenleben in Zeiten einer epidemiologischen Bedrohung organisieren, und mit denen die erfolgreiche Eindämmung der Corona-Infektionen über den Lockdown hinaus fortgesetzt werden sollte. Regeln machen nur dann Sinn, wenn sie verstanden, akzeptiert und angewandt werden können, wenn ihre Einhaltung überwacht und überprüft und ihre Nicht-Einhaltung bestraft werden kann und bestraft wird. Nichts von all dem ist aktuell gegeben. Die Zahl der Neuinfizierungen und der Krankenhauspatienten resultiert aus genau diesem Unvermögen, klare Regeln zu erlassen und ihre Befolgung zu sichern. Entweder man will die Gesellschaft zu Disziplin im Umgang mit dem Virus anhalten, oder man will es nicht. Wenn man es will, reicht gutes Zureden eben nicht aus.
Ludwig Wittgenstein hat seinen „Tractatus logico-philosphicus“ mit dem Satz abgeschlossen „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Diese letzte Konsequenz folgte seiner Eingangsfeststellung „Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen.“
Mit anderen Worten: Wenn man nicht fähig ist, das, was man sagen will, klar zu artikulieren, soll man es gar nicht erst versuchen. Wenn man unfähig ist, etwas klar und unmissverständlich zu regeln, soll man es lassen. Ein Rechtsstaat kann nur funktionieren, wenn man sein Recht versteht, es einhalten und seinen Bruch bestrafen kann.
Die Polizei kann keine größere Menschenansammlung auflösen, wenn diese nicht „organisiert“ ist. Klartext: kein Einschreiten auf brechend vollen Partywiesen oder in den Gassen der Hauptstadt, wo Tausende Feierbedürftige eben unorganisiert alle Abstands- und Hygieneregeln ignorieren. Sie darf auch keine „privaten“ Veranstaltungen stören, denn die scheinbar grenzenlosen persönlichen Rechte und Freiheiten müssen doch wenigstens auf privatem Grund und Boden den völlig konsequenzlosen Rechtsbruch erlauben – my home is my castle. Sollte sie mit Schlägereien und brutaler Gewalt konfrontiert werden, wird sie nicht eingreifen, weil das zu gefährlich ist – tatsächlich sind zwei Polizeibeamte inmitten einer wütenden Meute deutlich übervorteilt.
Was ist das für ein Rechtsstaat, der seine eigenen Regeln so schwammig formuliert, dass ihre Einhaltung nicht durchgesetzt werden kann? Was ist das für ein Rechtsstaat, in dem mittlerweile fast jede Aufforderung, die Polizei möge doch einschreiten und für Ordnung sorgen, mit dem quasi offiziellen Spruch „Die kann da nichts machen“ abgewürgt wird? Was muss denn passieren, damit das sich ändert?
Jedes Wochenende ein paar Tote auf Kinnikswiss und Dräi Eechelen? Dauerhaft geschlossene Grenzen und ein Abdriften der Wirtschaft in einen vegetativen Zustand nach dem dritten Lockdown? Um ein bekanntes Bild zu bemühen: Wie weit müssen wir uns dem Abgrund nähern, damit endlich ein großer Schritt nach vorn gemacht wird? In der Rubrik der passenden Worte großer (Staats)männer kann man das exakte Problem der luxemburgischen Regierung kaum treffender beschreiben, als Kardinal Richelieu: „Faire une Loi et ne pas la faire exécuter, c’est autoriser la chose qu’on veut défendre“.
Blau-rot-grüne Spaßregierung
Die Dinge werden dadurch nicht einfacher, dass in den sieben Jahren blau-rot-grüner Spaßregierung die finanziellen Reserven des Staates schonungslos und restlos in die Bedienung der allgemeinen Volkszufriedenheit investiert wurden. Schließlich kostet Spaß Geld. Deshalb überrascht es auch nicht, dass die Regierung ziemlich genau einen Monat, nachdem der Lockdown beschlossen wurde, bereits eine Anleihe von zweieinhalb Milliarden aufnehmen musste. Die Staatsgehälter für April konnten gerade mal noch überwiesen werden, mehr war halt nicht mehr da.
Jeder, der die Entwicklung der Haushaltszahlen in den letzten sieben Jahren beobachtet hat, dürfte hiervon kaum überrascht sein: sogar mit konstanten vier Prozent Wirtschaftswachstum ist es ein Husarenstück, das Budgetvolumen in sieben Jahren um 50 Prozent (sic!) ansteigen zu lassen. Die Lohnkosten für öffentlich Bedienstete sind im gleichen Zeitraum von 2,9 auf 4,9 Milliarden Euro angewachsen – eine Steigerung um rund 70 Prozent.
Das ging natürlich nur, indem man alle Fondsreserven und alle Steuerreserven gleichzeitig mobilisierte – um an Tag 1 der Corona-Krise mit leeren Kassen vor einem Berg von Engagements zu stehen. Den Nostalgikern von CSV-geführten Regierungen sei zugerufen: das wäre mit uns niemals passiert.
Mit CSV-Regierungsbeteiligung wäre auch nicht großspurig bei der Ausrufung des Krisenzustandes eine „union nationale“ beschworen worden, die sich anschließend im gelegentlichen Kommunizieren mit der parlamentarischen Opposition ein paar Minuten vor den allfälligen Pressekonferenzen erschöpfte. Tatsächlich hat es diese Union nie gegeben. Es könnte allerdings durchaus sein, dass sie im weiteren Verlauf der Probleme noch einmal auf die Tagesordnung müsste.
Die CSV will, dass der Staat die Kontrolle über das virale und gesellschaftliche Geschehen zurückgewinnt, denn im gegenteiligen Fall riskiert das Land einen großflächigen Vertrauensverlust in seine Institutionen. Auch in der Opposition sagen wir klar und deutlich: die Bürger müssen Vertrauen in ihre Regierung haben können, wenn diese besonnen, resolut und letztlich einfach richtig handelt. Tut sie das, wird sie auch unsere Unterstützung haben. Tut sie das nicht, werden wir deutlich machen, wieso wir diese Unterstützung nicht geben können.
Vermasseltes Déconfinement
Unsere Gesellschaft ist angespannt, Lockdown und vermasseltes Déconfinement haben Überzeugungen angenagt und Lebensperspektiven erschüttert. Dieser Tatsache muss eine Regierung mit Entschlossenheit, Klarsicht und erkennbarer Perspektive begegnen. Es reicht nicht, Pressekonferenzen anzuberaumen, um zu verkünden, vielleicht würde man in ein paar Tagen irgendwas tun und dann gäbe es wieder eine Pressekonferenz.
Wir steuern auf eine soziale Krise zu, deren Konturen sich bereits abzeichnen. Vielen Menschen in Eigenverantwortung und in privatrechtlicher Lohnabhängigkeit haben der Lockdown und seine wirtschaftlichen Folgeerscheinungen bereits schwer zugesetzt, viele weitere werden in den kommenden Monaten zunehmend mit Armut, Existenzängsten und Perspektivlosigkeit konfrontiert werden. Dies wird Aggressivität und Gewaltbereitschaft nicht eindämmen, im Gegenteil.
Es ist Aufgabe der Politik, sich den Nöten und Sorgen der Menschen anzunehmen, damit aus diesen nicht Frust und Wut in bedrohlichem Ausmaß entstehen. Eine 14- prozentige Wohnpreiserhöhung im letzten Jahr und eine Fortschreibung des Immobilienwahns im nächsten wird, vor dem Hintergrund fallender Einkommen und unsicherer Beschäftigungsverhältnisse, nicht dazu beitragen, die bestehenden sozialen Spannungen zu entschärfen.
Der Kontrollverlust muss gestoppt werden. Das gilt gegenüber dem Virus genauso, wie gegenüber immer mehr Gewaltentgleisungen und einer Staatskasse, die aus rein elektoralen Gründen leergeplündert wurde. Es ist nicht mehr die Zeit für Ausgabenorgien, die Politik ersetzen. Es reicht nicht mehr, dass wir es uns eben alle gut gehen lassen, weil politische Führung auf Dauer zu anstrengend ist. Die Party ist vorbei. Beim Aufräumen helfen immer weniger als beim Feiern.
Frank Engel, CSV-Parteipräsident
Luxemburger Wort, 18. Juli 2020