Die soziale Frage

Anderthalb Prozentpunkte ist die Arbeitslosigkeit zur Jahresmitte gegenüber Anfang März angestiegen.  Über 20.000 Menschen sind bei der ADEM eingeschrieben, über ein Drittel mehr als im Vorjahr. Die psychologischen Nachfolgeschäden der Isolierung im Frühjahr treten langsam zu tage. Die private Verschuldung ist gestiegen. Viele Menschen haben Angst um den (noch) verbleibenden Arbeitsplatz. Zahlreiche Indikatoren zeigen in Richtung einer gewaltigen sozialen Schieflage, mit der Luxemburg in den kommenden Monaten konfrontiert werden wird.

Bereits vor der Krise war klar, dass sich eine neue soziale Frage stellt. Die reale Armut im Land vergrößerte sich, das Armutsrisiko vieler sozialer Schichten nahm zu, die gesellschaftliche Ausgrenzung von immer mehr Menschen wurde als Bedrohung des sozialen Friedens ausgemacht. Dies alles passierte vor dem Lockdown und seinen wirtschaftlichen Nachfolgeerscheinungen.

Es gab eine gesundheitliche Krise, eine wirtschaftliche Krise lässt sich nicht mehr vermeiden, und die Wahrscheinlichkeit einer sozialen Krise steigt. Ebenso stellt sich verstärkt eine Gerechtigkeitsfrage, die mit Statusunterschieden innerhalb der luxemburgischen Gesellschaft zu tun hat. Diese haben sich in den vergangenen Monaten spürbar verschärft. Wer im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, hatte keine Einkommenseinbußen zu verzeichnen und konnte sich darauf verlassen, dass er entweder als Telearbeitender sein volles Gehalt weiter erhalten würde, oder als von der Arbeitspflicht Dispensierter. Im Privatsektor fielen Zehntausende Beschäftigte auf 80 Prozent ihrer Entlohnung zurück – bis zu einer Obergrenze von zweieinhalb Mindestlöhnen. Was darüber verdient wird, ist bei Kurzarbeit schlicht und ergreifend weg.

Wer dann 5.000 Euro Schulden zu bedienen hat, was nun wirklich keine Seltenheit in unserem Land ist, merkt auf sehr einschneidende Manier, wie schnell es eng werden kann. Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst werden direkt keine verloren gehen. In der Privatwirtschaft sieht das völlig anders aus, mit den entsprechenden Konsequenzen: Einkommensverlust, Überschuldung, Verarmung. Diese Beschreibung ist eine von Menschen, die eigentlich weit von der Prekaritätsgrenze weg leben sollten. Doch harter sozialer Abstieg ist eine Perspektive, die in dieser Zeit Tausende umtreibt.

Bei den Immobilienpreisen scheint sich keine direkte Entspannung abzuzeichnen. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass zum Jahresende, wenn die Einkommenslage Tausender Haushalte im Land sich dauerhaft verschlechtert haben wird, die Bedienung der Kredite und die Zahlung der Mieten zu einem großflächigen Problem werden. Wieder einmal werden die Wohnungspreise auf die finanzielle und gesellschaftliche Handlungsfähigkeit zahlreicher Menschen drücken.

Die soziale Frage war bereits vor der Krise aufs Neue gestellt. Sie wird im weiteren Verlauf des Jahres an Dimension und Dringlichkeit zunehmen. Die Politik muss schnell eine umfassende Sozialagenda entwerfen, wenn wir verhindern wollen, dass der soziale Zusammenhalt in Luxemburg irreparablen Schaden erleidet. Diese Agenda wird auch etwas kosten. Ohne weitere Verschuldung wird sie angesichts nicht existierender staatlicher Reserven nicht zu finanzieren sein. Aber es geht darum, ob wir echten Zusammenhalt auf Dauer bewerkstelligen wollen.

Source: Lëtzebuerger Land, 10. Juli 2020