Lehren. Die Wirtschaftspolitik muss künftig stärker koordiniert werden, fordert der Vorsitzende der Eurogruppe und RM-Mitherausgeber. Jean-Claude Juncker schreibt im Rheinischen Merkur.
Wenn die Lage komplizierter wird und die Fragen vielschichtiger werden, dann haben einfache und
vereinfachende Antworten es besonders leicht. Wer nach anstrengender Debatte und intensivem Austausch der Argumente in einer Auseinandersetzung unterliegt, der wird gemeinhin als Verlierer bezeichnet, auch wenn er in vielem, das er vorbrachte, recht hatte. So ist es im Privaten und so ist es auch in der Politik.
Besonders im politischen Raum sind die zu beantwortenden Fragen so pluridimensional geworden, dass vollumfängliches Abwägen der möglichen Antworten zunehmend schwerfällt. Anstatt jeder gestellten Frage eine spezifische Antwort zuzuführen, zieht man es vor, der dichten Summe der Fragen eine lose summarische Antwort zukommen zu lassen. Dieser Vorgang – viele komplizierte Fragen, eine einfache Antwort – lässt sich zurzeit am politischen und publizistischen Umgang mit der sogenannten Euro-Krise eindrucksvoll belegen.
Alle Fragen, die in Zusammenhang mit den Turbulenzen an den Finanzmärkten gestellt werden, sind ernst zu nehmen. Nicht alle halbwahren Exklusivantworten verdienen dieselbe Aufmerksamkeit.
An die eigene Nase fassen
Es wird behauptet, die Deutschen und andere "tugendhafte" Europäer müssten für das Fehlverhalten der griechischen Politik geradestehen. Es stimmt: Die Griechen haben ihr nationales Zahlenwerk geschönt. Aber es stimmt auch, dass das europäische statistische Amt Eurostat mehrfach die Zuverlässigkeit der hellenischen Daten infrage gestellt hat und dass die Kommission daraufhin zusätzliche Kontrollbefugnisse für ihre statistische Behörde vorgeschlagen hat. Dies wiederum haben die EU-Regierungen mit dem Argument abgelehnt, die Kommission versuche ihre Machtbefugnisse auf Kosten der Mitgliedsstaaten auszubauen. Alle Finanzminister fordern heute das, was sie gestern verhinderten, nämlich mehr Kontrollrechte für die Kommission. Wären sie seinerzeit den Vorschlägen der Kommission gefolgt, hätte die Griechenland-Problematik verhindert werden können.
Anstatt alle Schuld in Athen abzuladen – und Griechenland hat gravierende Fehler gemacht -, sollten wir uns an die eigene Nase fassen. Die mit fundamentalistischem Eifer betriebene Anti-Kommissions-Kampagne, die ein provinzielles Europabild reflektiert, hat ins statistische Chaos geführt.
Es wird behauptet, wir Westeuropäer müssten die Zeche für die schwächelnden Südeuropäer zahlen. Dies stimmt nur zum kleinsten Teil. Es stimmt: Die Finanzmärkte haben vor allem die Südschiene des Euro-Gebietes im Visier. Wahr ist aber auch, dass der Euro als solcher – also auch unsere Währung – massiv angegriffen wird. Und wahr ist auch, dass, wenn der Euro fällt, auch die Europäische Union in Atemnot geraten wird. Wir verteidigen nicht nur die Währung der Griechen, der Spanier und der Portugiesen. Wir verteidigen auch unsere Währung. Unsere gemeinsame Währung.
Es wird behauptet, die Bonitätskrise einiger Euro-Staaten sei das Werk weltweit operierender Spekulanten. Es stimmt: Die Spekulanten feuern die Kreditwürdigkeitsprobleme einzelner Staaten an. Wahr aber ist, dass die hohen Defizite und die überhöhten Schuldenstände der betroffenen Staaten den Spekulanten die Nahrung bieten, die sie zum Fressen brauchen. Wahr ist aber auch, dass sich die Schuldenstände in Euro-Europa nach oben entwickelt haben, weil die Regierungen die finanziellen Folgen der Finanzkrise und der die Realwirtschaft stützenden Konjunkturprogramme schultern mussten.
Der Finanzsektor hat eine Krise losgetreten, und die Finanzmärkte bestrafen diejenigen, die ihm aus der Krise geholfen haben. Aber so einfach ist es wiederum nicht. Hätten einige akut bedrohte Staaten vor dem Ausbrechen der Finanzkrise ihre Staatsfinanzen während der Hochkonjunktur konsolidiert, statt sorglos zu wirtschaften, dann hätten sie Haushaltspolster anlegen können, die sie krisenresistenter gemacht hätten. Halbwahrheiten hier, Halbwahrheiten dort!
Von allen wird behauptet, der Stabilitätspakt müsse auf den Prüfstand. Es stimmt: Wir brauchen glaubwürdigere Sanktionsmechanismen für Stabilitätssünder. Es stimmt nicht, dass der Stabilitätspakt anlässlich seiner Novellierung im März 2005 generell gelockert worden wäre. Er wurde lediglich um eine konjunkturelle Komponente erweitert. In konjunkturell schwachen Jahren sollten keine abrupten konjunkturabtötenden Totaleinsparungen erzwungen werden können. In Hochkonjunkturzeiten sollten die Haushalte präventiv konsolidiert werden, um konjunkturell bedingten Einnahmeverlusten besser Paroli bieten zu können. Diesen präventiven Teil des Paktes gilt es effizienter zu gestalten.
Richtigen Zeitpunkt verpasst
Aber Pakt hin oder her: Die Regierungen sind die Architekten konsolidierter Haushalte, kein Pakt der Welt wird sie automatisch von höchst unpopulären Maßnahmen befreien können. Solche Maßnahmen hätten einige Regierungen während der konjunkturell guten Jahre entscheiden müssen. Sie haben es nicht getan. Obwohl der Pakt sie eigentlich dazu verpflichtet hat.
Es wird behauptet, die Wirtschaftspolitik im Euroraum müsse stärker koordiniert werden. Diese Behauptung ist nicht erst heute richtig. Dass sie jetzt auch von denen formuliert wird, die sich ihr mit Hinweis auf das Nationale an der Ökonomie verhindert haben, gibt Anlass zur Annahme, dass mehr und nicht – wie gehabt – weniger Europa angesagt ist.
In der Tat ist es so, dass die einfache und nicht vereinfachende Antwort auf die Krise nur lauten kann: Wir brauchen mehr Europa!
Quelle: Rheinischer Merkur, 3. Juni 2010, Jean-Claude Juncker