Viviane Reding: „Gerechtigkeit für Bürger“

LW- Interview mit der EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft und Vizepräsidentin der EU-Kommission

INTERVIEW: JAKUB ADAMOWICZ

Am 10. Februar hat Viviane Reding (CSV) ihr Amt als erste EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft angetreten. Für die 58-Jährige ist es die dritte Amtszeit als EU-Kommissarin, nachdem sie bereits die Portfolios Bildung und Kultur sowie Informationsgesellschaft und Medien bekleidet hat. Mit Reding unterhielt sich das „Luxemburger Wort“ über ihre neuen Aufgaben und die Gestaltungsmöglichkeiten nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags.

Luxemburger Wort: Was hat sich im Justizbereich geändert? 
Viviane Reding: Vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags hatte die EU-Kommission im Justizbereich keine Zuständigkeit. Jetzt bin ich verantwortlich für den größten Teil von Neuerungen, die durch den Lissabon-Vertrag erfolgen. 

Luxemburger Wort: Was ist Ihr Auftrag? 
Viviane Reding: Gerechtigkeit für den Bürger zu schaffen.

Luxemburger Wort:Und als Vizepräsidentin?
Viviane Reding: Als Vizepräsidentin bin ich außerdem verantwortlich dafür, dass die gesamte EU-Kommission ihr Vertragsmandat erfüllt.

Luxemburger Wort: Was halten Sie von der im Lissabon-Vertrag verankerten Grundrechtecharta?
Viviane Reding: Die Grundrechtecharta ist der Kompass für die EU-Politiken. Das ist ein wunderbarer Text, der modernste seiner Art. Ich bin die Hüterin der Grundrechtecharta.

Luxemburger Wort: Wie meinen Sie das konkret?
Viviane Reding: Alle Beschlüsse der EU-Kommission müssen auf Vereinbarkeit mit der Grundrechtecharta geprüft werden. Dieser Test wird von der Vizepräsidentin durchgeführt.

Luxemburger Wort: Sie verpflichtet die Kommissare?
Viviane Reding: Am kommenden 3. Mai werden alle 27 EU-Kommissare in Luxemburg vor dem Gerichtshof ihren Amtseid auf die Grundrechtecharta leisten.

Luxemburger Wort: Wie wirkt sich die Charta auf Politiken im Justizbereich aus?
Viviane Reding: Politische Maßnahmen im Polizei- und Sicherheitsbereich werden ab sofort auf ihre Vereinbarkeit mit Bürgerrechten hin überprüft. Wir können nicht 500 Millionen Menschen in Geiselhaft nehmen, weil sich 50 schlecht benehmen. Ob wir wollen oder nicht: Die Grundrechtecharta muss respektiert werden.

Luxemburger Wort: Etwa beim Verfahrensrecht?
Viviane Reding: Erstmals hat die Kommission ein Vorschriftenbündel vorgelegt, das einheitlich regelt, welche Rechte Angeklagte haben, wenn sie im EU-Ausland vor einem Gericht stehen oder verhaftet werden. Die meisten Staaten machen zwar ein langes Gesicht. Doch der kleinste gemeinsame Nenner reicht nicht aus.

Luxemburger Wort: Sehen Sie das Europaparlament als Ihren Verbündeten?
Viviane Reding: Das Euroaparlament ist durch den Lissabon-Vertrag zum gleichberechtigten Partner der Kommission und des Rates aufgestiegen. Es unterstützt meine Politik. Zum Beispiel beim Swift-Abkommen zum Bankdatenaustausch mit den USA.

Luxemburger Wort: Wie steht es um den EU-Beitritt zur EMRK?
Viviane Reding: Ich habe das Verhandlungsmandat für den Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention ausgearbeitet. Das ist ein weiterer Schritt zur Stärkung der Grundrechte.

Luxemburger Wort: Inwiefern?
Viviane Reding: Das Straßburger Gericht hat als letzte Instanz die externe Kontrolle, ob die EU die Bürgerrechte respektiert.

Luxemburger Wort: Setzen Sie auf das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit?
Viviane Reding: Ja, auf der Gesetzesebene, und zwar bei der Scheidung binationaler Ehen – übrigens das erste Mal in der EU-Geschichte, dass dieses Instrument angewandt wird.

Luxemburger Wort: Was wollen Sie ändern?
Viviane Reding: Bis jetzt kann sich der stärkere Teil zum Nachteil des schwächeren Partners und der Kinder das Gericht aussuchen, das ihm recht gibt. In Zukunft wird das im gegenseitigen Einvernehmen zwischen den Partnern geschehen.

Luxemburger Wort: Luxemburg macht mit?
Viviane Reding: Luxemburg und seine Nachbarn machen von Anfang an mit. Insgesamt sind es bisher zehn Staaten. Wir Luxemburger sind gewöhnt, den Motor zu spielen. Schon bei Benelux, Schengen und dem Euro war Luxemburg von Anfang an dabei. Manchmal muss man mit konkretem Beispiel vorangehen.

Luxemburger Wort: Wie sind Ihre wirtschaftspolitischen Pläne?
Viviane Reding: Wir müssen den administrativen Ballast von Grenzregionen eliminieren.

Luxemburger Wort: Was wollen Sie ändern?

Viviane Reding: 60 Prozent der Schulden im Ausland können nicht eingetrieben werden, weil der Schuldner nicht zu finden ist. Das ist gerade für Luxemburger Unternehmer ein großes Problem. In Zukunft sollen bei Gerichtsentscheidungen auch die Konten im Ausland mit blockiert werden.

Luxemburger Wort: Und außerdem?
Viviane Reding: Die Anerkennung im EU-Ausland getroffener Gerichtsurteile findet in Zukunft unbürokratisch und preiswert statt.

Luxemburger Wort: Wie wollen Sie das Vertragsrecht vereinheitlichen?
Viviane Reding: Mein Vorbild ist der Commercial Code in den USA – ein einheitliches Handelsgesetzbuch. Bisher haben wir 27 sich oftmals widersprechende Regelungen. Als Dachregelung sollten wir ein 28. Rahmenvertragsrecht schaffen. Die Vertragspartner sollen wählen, ob sie mit den sich widersprechenden nationalen Regeln oder mit der europäischen Dachregelung arbeiten wollen. 

Quelle: Luxemburger Wort, 23. Mäerz 2010