“Die historische Leistung Helmut Kohls kann niemand in Zweifel ziehen.” Herausgeber zu Fragen der Zeit, Jean-Claude Juncker schreibt im Rheinischen Merkur
In Monatsfrist wird Helmut Kohl 80 Jahre alt. Keine Zeitung, kein Magazin, kein Fernsehoder Rundfunksender wird dieses Ereignis kommentarlos verstreichen lassen können. Kohl, dessen politisches Ende Hunderte Mal vorausgesagt wurde, wird um den 3. April herum die Nachrichten beherrschen wie kaum ein Politiker zuvor. Jene, die ihn ein halbes Menschenleben lang mit Hohn und Spott eingedeckt haben, werden es auch an seinem 80. Geburtstag nicht schaffen, sein Lebenswerk so zu würdigen, wie er es verdiente. Und jene, die ihm die Solidarität aufkündigten, als er sie am meisten gebraucht hätte, werden seinen Ehrentag nutzen, um ihm einen überdimensionalen Lorbeerkranz zu winden, der ihr schlechtes Gewissen kleiner erscheinen lassen soll. Helmut Kohl wird all das aus jener fast heiteren Distanz heraus betrachten, die ihn in den letzten Jahren zunehmend beseelt hat. Er ist mit sich selbst im Reinen, und er hat auch allen Grund dazu.
Die meisten Dinge, an die er sich heranwagte, hat er zum Erfolg führen können. Er hat nicht nur seine eigene Partei modernisiert. Als junger Ministerpräsident hat er seinem Heimatland die alten Zöpfe abgeschnitten, die konfessionsgebundenen Grundschulen abgeschafft, neue Hochschulen gegründet, die Landesverwaltung umgekrempelt.
Wem es gelingt, sein Bundesland und seine Partei zu modernisieren, der muss über ein beharrliches Durchsetzungsvermögen verfügen. Wenn Helmut Kohl sich ein Ziel gesetzt hatte, steuerte er es mit sicherem Instinkt für das Machbare an und ließ sich durch nichts von ihm abhalten. Jahrelang wurde ihm bis in die Reihen seiner eigenen Parteigefolgschaft hinein die Befähigung zum Kanzleramt abgesprochen. Franz Josef Strauß vermisste bei Kohl alles, was einen Kanzler ausmache, Helmut Schmidt versuchte ihn als jemanden vorzuführen, der über keinerlei Zugang zur Komplexität internationaler Zusammenhänge verfüge, große Teile der deutschen Intelligenzija karikierten ihn als Provinzdeppen, der sich auf die Bühne der großen Politik verlaufen hätte. Als Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 zum Bundeskanzler gewählt wurde, schrieb der SPD-Pressedienst: "Das Unvorstellbare ist geschehen." Unvorstellbar erscheint es heute, dass Kohl von Freund und Gegner dermaßen unterschätzt wurde. Erklären lässt sich die Fehleinschätzung seiner Talente nur dadurch, dass Kommentatoren die zwei bestimmenden Elemente seiner Biografie übersehen hatten: seine Kriegserlebnisse und sein Geschichtsstudium. Es darf vermutet werden, dass die Irrungen und Wirrungen des Zweiten Weltkrieges, die auch den jungen Kohl nicht verschont hatten, in ihm den Wunsch reifen ließen, den Ursachen, die zur deutschen und europäischen Tragödie geführt hatten, auf den Grund zu gehen und Geschichte zu studieren.
Kohl, der die Not der letzten Kriegsmonate hautnah erlebt und die Geschichte des Kontinents studiert hatte, hat die Einigung Europas zu seiner Sache gemacht. Er ist auch als Politiker Historiker geblieben. Er hat es verstanden, Ereignisse und Verwerfungen historisch einzuordnen und daraus die Konsequenzen für das eigene Tun abzuleiten. Die deutsche Wiedervereinigung erschien ihm als nicht aufzuhaltende Entwicklung. Gorbatschow gegenüber hat er diese Überzeugung in das Bild gekleidet, dass die deutsche Einheit so sicher komme, wie der Rhein ins Meer münde. Kohl hat das Ziel der deutschen Einheit in Frieden nie aufgegeben. Und er hat die Chance zur Wiedervereinigung beherzt ergriffen, als sie sich ihm und den Deutschen bot. Er war während der entscheidenden Wochen, die den Weg zur Einheit ebneten, nicht der Pfalzer, der sich in der großen Politik verirrt hatte, sondern der feinfühlige Staatsmann mit perspektivischem Weitblick. "Gut gemacht, Kanzler", schrieb der "Spiegel" damals. Nur zugetraut hatten es ihm die wenigsten.
Die deutsche Einheit erschien ihm zwangsläufig, die europäische Einigung notwendig. Der Historiker Kohl, der junge Pfalzer aus dem Grenzland, wusste: Wenn nicht unverrückbare Friedenspflöcke in die europäische Landschaft eingeschlagen werden, dann werden die alten europäischen Dämonen die Europäer erneut zu ihrem Unheil verführen. Deshalb hat er für die europäische Integration gestritten, die Einführung des Euro zur persönlichen und nationalen Schicksalsfrage gemacht, die Freundschaft zu Frankreich und das respektvolle Miteinander mit den kleineren Nachbarn Deutschlands zur Staatsräson der 1980 e- und 1990er-Jahre werden lassen. Die Einbettung der deutschen in die europäische Einigung ging ihm leicht von der Hand, denn sie entsprach dem Architektenplan, an dem er lange geduldig gearbeitet hatte. Die geniale Tat von Helmut Kohl besteht im harmonischen Zusammenfügen dessen, was zwangsläufig kommen musste – die deutsche Einheit -, und dem, was notwendig war – nämlich die europäische Einigung.
Diese Leistung wird niemand ihm streitig machen können. Egal, was zu seinem Geburtstag geschrieben wird.
Quelle: Rheinischer Merkur, 4. März 2010, Jean-Claude Juncker