Herausgeber zu Fragen der Zeit, Jean-Claude Juncker schreibt im Rheinischen Merkur
Man mag es drehen und wenden, wie man möchte: Die Staaten diesseits und jenseits des Atlantiks sind dabei, sich hoffnungslos zu verschulden. Treffender noch: sich zu überschulden. Die Konjunkturpakete, die in den USA und in Europa geschnürt wurden und zu denen es keine Alternativen gab und gibt, lassen die Schuldenberge massiv anwachsen.
Dass Regierungen alles tun, um die Folgen der von den Finanzakrobaten losgetretenen Finanz- und Wirtschaftskrise maximal abzufedern, kann ihnen nicht zum Vorwurf gemacht werden. Ohne die starken, europäisch und weltweit abgestimmten Reaktionen der Regierungen auf die wirtschaftspolitische Schieflage wäre die Welt in einen Zustand befördert worden, der schlimmer gewesen wäre als das Desaster, das die Weltfundamente in den 1930er-Jahren bis hin zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu gewaltigem Erschüttern brachte.
Die erste flächendeckende globale Krise hat eine ebenso globale Antwort erhalten. Die globale Antwort, die die Europäer formulierten, ist das greifbare Ergebnis der Existenz der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Würden die 16 Eurostaaten noch über exklusiv nationale Währungen verfugen, so wären ihre Antworten auf die Krise – weil sie rein national inspiriert gewesen wären – höchst unterschiedlich, ja widersprüchlich ausgefallen. So aber mussten die Politiken der Euroländer koordiniert werden.
Wer sich einer einheitlichen Währung bedient, kann nicht ohne Rücksicht auf die anderen Miteigentümer schalten und walten, wie es ihm beliebt. Nicht nur die Euro-Mitglieder mussten in geeinter Front marschieren. Auch die EU-Mitglieder, die noch nicht zur Währungsunion gehören, aber demnächst dazugehören möchten, mussten ihre Politik europäischer ausrichten, als sie es hätten tun müssen, wenn sie den Euro nicht zu ihrer Währung hätten machen wollen. Sogar Briten und Dänen, denen der Maastrichter Vertrag das Recht auf monetäre Singularität zubilligt, sahen sich gezwungen, ihre Politik mit der der Eurozone abzustimmen. Schuldenanhäufung und ansteigende Nettokreditaumahmen waren notwendig, um der Krise Herr zu werden.
Es stellt sich jetzt die Frage: Wie kommen wir von dem gewachsenen Schuldenberg wieder herunter? Auf diese Frage gibt es richtige und falsche Antworten. Ohne jeden Zweifel wäre es falsch, den in den vergangenen zwei Jahren eingeschlagenen Verschuldungsweg ohne weitere Prüfung der sich ver-ändernden Umstände einfach in Zukunft weiter zu beschreiten. Jedem nicht mit totaler Blindheit geschlagenen Bürger und Politiker muss klar sein, dass sich ein einfaches "Weiter so" strikt verbietet. Es ist wahr: Schulden tun nicht weh, sie haben keinen sofort feststellbaren unangenehmen Geruch. Sie sind süßes Gift, das vermeintlich sanft einschläfert, das aber de facto unsere Gesellschaft in ein Wachkoma versetzt, das uns zur vollständigen Bewegungslosigkeit verdammt. Der Marsch in die absoluten Schulden muss also gestoppt werden.
Falsch wäre es jedoch auch, den eingeschlagenen Weg der globalen, von Steuergeldern finanzierten Konjunkturstützung abrupt zu beenden. Wer jetzt, von heute auf morgen, auf die Konjunkturbremse tritt, ja sogar zur konjunkturellen Vollbremsung an setzt, der dreht der aufkommenden Wachstumserholung den Hahn ab. Ein abrupter Kurswechsel verbietet sich, da das totale Zurücknehmen der fiskalischen Stimuli konjunkturabschwächende Konsequenzen zeitigen würde.
Die richtige Antwort auf die galoppierende Staatsverschuldung ist eine andere. Schulden dürfen nur für Staatsausgaben gemacht werden, die jene Zukunftsinvestitionen bedienen, die das Wachstumspotenzial unserer Wirtschaftsräume stärken. Mit einem Wachstumspotenzial von nur 1,5 bis zwei Prozent wird sich das europäische Sozialmodell mittelfristig nicht halten lassen. Es wird unfinanzierbar. Investitionen müssen gefördert, Konsumausgaben gebremst werden.
Wer das europäische Sozialstaatsmodell in die Zukunft retten möchte und wer wünschte sich das nicht? -, der muss zum sofortigen Sozialumbau bereit sein. Der muss bereit sein, das Liebgewonnene auf seine Nützlichkeit und seine Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen. Der muss auch dazu bereit sein, den Menschen, die oft Sozialleistungen beziehen, die keiner sozialpolitischen Gerechtigkeitsanforderung entsprechen, zu erklären, dass wir im Interesse der nachfolgenden Generationen Liebgewonnenes durch Zukunftsträchtiges ersetzen müssen.
Wir müssen die Schulden, die wir auftürmen, zum großen Teil selbst abbauen. Wir dürfen nicht ungeniert auf Kosten derer leben, die noch zu jung sind, um über das Wahlrecht zu verfügen, und sich deshalb nicht wehren können. Der Generationenvertrag gilt nicht nur im Rentensystem. Er muss auch im Staatswesen gelten.
Quelle: Rheinischer Merkur, 5. Februar 2010, Jean-Claude Juncker