“Respekt vor dem politischen Mitbewerber ist ein sehr hohes Gut.” Herausgeber zu Fragen der Zeit, Jean-Claude Juncker schreibt im Rheinischen Merkur, 24. September 2009
In Wahlkämpfe anderer Länder sollte man sich nicht ungebeten selbst einladen. Man darf zwar ohne Zögern Wahlkampfhilfe für politische Freunde leisten. Aber man muss dies mit gebremstem Charme tun, denn auch in der europäischen Demokratie gibt es länderübergreifende Freundschaften über die Parteigrenzen hinaus. Es ist normal geworden, dass ausländische Christdemokraten im deutschen Wahlkampf für Angela Merkel und ihre Partei werben, genauso wie Sozialisten aus den Nachbarländern um Zustimmung zur Politik von Frank-Walter Steinmeier und seiner SPD bitten. Seit die Parteien sich auch auf europäischer Ebene organisiert und zusammengeschlossen haben, werden gemeinsame Überzeugungen notwendigerweise auch gemeinsam vertreten. Starkes Interesse am demokratischen Wettbewerb der Nachbarn ist allemal besser als exklusiv nach innen gerichtete Nabelschau.
Dem, der über Jahre Wahlkämpfe im In- und Ausland bestritten hat und somit zu einem privilegierten Beobachter des Wahlgeschäftes bei anderen geworden ist, drängen sich ein paar Feststellungen zum laufenden deutschen Wahlkampf auf.
Große Teile der überregionalen Publizistik in Deutschland bemängeln, es fehle dem Aufgalopp zum 27. September die Würze, weil die Auseinandersetzung zu sachlich sei und das direkte Aufeinandertreffen der Spitzenkandidaten zu sehr im Konsens verliefe. Der Wahlkampf sei langweilig, so liest man, kontroverse Themen würden ausgespart, die Probleme des Landes und die Unterschiede zwischen den Parteien verschleiert, Zukunftsentwürfe blieben im Nebel. Merkel und Steinmeier brächten die Wähler zum Einschlafen.
Über derartige Pauschalvorwürfe kann man sich nur wundern. Ist es nicht eher ein Zeichen von demokratischer Aufrichtigkeit, dass Politiker sich inmitten einer nie da gewesenen Wirtschafts- und Finanzkrise der Sachthemen annehmen, die den Menschen unter den Nägeln brennen, statt auf den politischen Gegner einzuprügeln? Schlimmer wäre ein konfrontativer Wahlkampf, der den Ernst der wirtschaftlichen und sozialen Lage bewusst verkennen würde und die Behandlung der Sachthemen im Getöse der sonst leider üblichen Beschimpfungen und Beleidigungen untergehen ließe.
Es stimmt, in anderen Ländern wird in Wahlkampfzeiten mit härteren Bandagen gekämpft. In Frankreich etwa beschuldigen die Sozialisten den Hausherrn im Elysee, sich den Staat rücksichtslos einzuverleiben. In Belgien warnen Liberale vor jeder Form des "sozialen Umganges" mit Sozialisten, da diese sich ihre Taschen füllen würden, statt sich für das allgemeine Wohl einzusetzen. In Portugal wirft die Opposition der Regierung vor, Pressezensur auszuüben. In Spanien wird aggressiv darüber gestritten, ob die Regierenden die Oppositionellen illegal abhören ließen. In Italien überzieht die Opposition den Lebensstil des Regierungschefs mit Häme. Ist diese Art der politischen Debatte etwa glaubwürdiger, nur weil sie emotionsgeladener und deshalb publikumswirksamer ist?
Die deutsche Wahlauseinandersetzung mag langweilig wirken. Doch Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger finden es durchaus nicht langweilig, wenn ihre Lebensumstande thematisiert werden und Spitzenpolitiker sich ernsthaft mit ihnen befassen. Langweilig finden den Wahlkampf eher die professionellen Beobachter. Manchmal entsteht der Eindruck, als hätten die Spitzenkandidaten Merkel und Steinmeier sich den Erwartungen der sie befragenden Fernsehmoderatoren bedingungslos zu unterwerfen. Ansonsten müssen sie mit energisch vorgetragenen Zurechtweisungen rechnen. So geschehen bei ihrem Fernsehduell am 13. September. Weil Merkel und Steinmeier sich partout weigerten, einander an die Gurgel zu gehen, gerieten Klöppel & Co. regelrecht aus dem Konzept.
Dabei war klar, dass sich Kanzlerin und Vizekanzler nach vierjähriger gemeinsamer Regierungstätigkeit keinen Boxkampf erlauben konnten, ja erlauben durften. Hätten sie aufeinander eingedroschen und sich gegenseitig des miserablen Regierens bezichtigt, hätte der eine dem anderen die Regierungsfähigkeit abgesprochen – der Wähler hätte sich ob des totalen Glaubwürdigkeitsverlusts beider die Haare gerauft.
So aber hat er sich gewundert, dass die Themen Bildung und Klimaschutz, die beiden großen Aufgaben während und nach der Krise, überhaupt nicht angesprochen wurden. Niemand hat diese Fragen gestellt. Stattdessen rätselten die Moderatoren schon bei Sendebeginn darüber, ob die Sendung als Duell, als Duett oder als Duo bezeichnet werden sollte. Vielleicht hätten sie es erfahren, wenn sie die Kanzlerin und ihren Herausforderer nicht immer dann unterbrochen hätten, wenn die Debatte anfing, kontrovers zu werden.
Merkel und Steinmeier sind keine Krawallmacher und Schlägertypen. Die Deutschen sollten den sogenannten Kuschel-Wahlkampf nicht beklagen. Respekt vor dem politischen Mitbewerber ist in der Demokratie ein hohes Gut. Auf Dauer kommt eine reife Demokratie ohne ihn nicht aus.
Quelle: Rheinischer Merkur, 24. September 2009, Jean-Claude Juncker