Zur Lage der Nation

CSV Fraktionspräsident Michel Wolter schreibt im Soziale Fortschrëtt

Ein letztes Mal in dieser Legislaturperiode hatte das Parlament kürzlich Gelegenheit, nach Staatsminister Junckers Rede zur Lage der Nation über die Bilanz der vergangenen Jahre und die Zukunftsaussichten unseres Landes zu debattieren. Es war eine etwas andere Debatte – schließlich hat sich die Problemstellung seit den letzten Beratungen über die finanzielle, wirtschaftliche und soziale Situation im Frühjahr 2008 grundlegend
verändert. 

Die Krise hat uns ab Herbst 2008 so richtig erreicht. Vor ihrem Hintergrund verblasst die Erinnerung an die Anfangsleistungen der Koalition etwas. Wer heute die luxemburgische Ratspräsidentschaft der Europäischen Union im ersten Halbjahr 2005 in Erinnerung ruft, das Referendum über die europäische Verfassung im Juli 2005, und die Tatsache, dass Luxemburg mit der Großregion 2007 Kulturhauptstadt Europas war, scheint sich fast mit alter Geschichte zu beschäftigen. Dennoch liegt all das nur ein paar Jahre zurück. Unter normalen Umständen wäre es auch entsprechend gewürdigt worden, doch die Umstände sind nicht normal. 

Dass sie in Europa nicht normal sind, wissen wir schon lange. Im Jahr 6 nach Abschluss der Arbeiten des Verfassungskonvents hat Europa noch immer keinen neuen Grundlagenvertrag. Das irritiert und ist Anlass zur Sorge. Die eigenartigen Bestrebungen großer europäischer Länder, überein „Direktorium der Großen“ die Union zu regieren und in Alternativforen wie dem G20 den kleinen Mitgliedsstaaten zu diktieren, wie
sie sich zu benehmen haben, sind bei uns Anlass zur Sorge. So kann Europa nicht funktionieren. Es muss aber funktionieren, wenn wir die Wirtschaftskrise meistern wollen. Kein europäischer Staat schafft das allein! 

In Luxemburg müssen wir 2009 und 2010 mit wirtschaftlicher Rückbildung rechnen, im laufenden Jahr rechnet der Weltwährungsfonds
mittlerweile mit 4,8 Prozent Rückgang der Wirtschaftsleistung. Das ist enorm. Eine solche Durststrecke können wir jedoch überwinden, weil wir
finanzielle Reserven und Handlungsspielraum haben, den andere nicht besitzen. Was anderswo „Konjunkturprogramm“ genannt wird, heißt in Luxemburg seit Jahrzehnten „hohe öffentliche Investitionen und sozialer Ausgleich“. Sie sind und sie bleiben möglich, weil vornehmlich auf Drängen der CSV-Fraktion ab 2005 unser Staatshaushalt konsolidiert wurde. Seither konnte jene Summe eingespart werden, die 2009 und 2010 für Investitionen und sonstige Maßnahmen zugunsten von Wirtschaft und Beschäftigung ausgegeben wird. Es würden heute Milliarden fehlen, die dringend benötigt werden, um der Krise zu trotzen, wenn vor ein paar Jahren nicht der Haushaltsgürtel etwas enger angezogen worden wäre.

Die Herausforderungen, vor denen wir nun stehen, sind dennoch nicht neu, sondern im Grunde seit langem bekannt. Das Land, seine Strukturen und seine Verwaltung müssen im 21. Jahrhundert ankommen, eine resolute Modernisierung tut not. Wir müssen wieder flexibler werden,
reaktionsschneller gegenüber europäischen Entwicklungen, innovativer bei der wirtschaftlichen Diversifizierung. Wir müssen unser Image in Europa und der Welt verbessern. Das alles wird vor einer Kulisse steigenden Drucks auf dem Arbeitsmarkt und bei den Sozialversicherungen passieren müssen, denn deren Erfolg und Stabilität hängt von Wachstum ab, das wir einstweilen nicht haben werden. Dennoch bleibt für die
CSV die soziale Kohäsion oberste Priorität. Der luxemburgische Sozialstaat wird der Krise nicht geopfert! 

Am 7. Juni wird ein neues Parlament gewählt. Bis dahin steht ein Wahlkampf an, in dem die Parteien ihre Vorschläge miteinander konfrontieren werden. Die Opposition bietet nicht viel, und vor allem wenig Neues. Die CSV weiß um die Probleme und ihre Lösungen, wir haben schon Krisen
gemeistert und werden auch diese überstehen, im Geist der Solidarität und des soziales Ausgleichs. Wir wollen auch nach dem 7. Juni
Verantwortung in einer schwierigen Zeit übernehmen.

Michel Wolter, Soziale Fortschrëtt, Mai 2009