Aufgrund der in der breiten Öffentlichkeit geführten Diskussion über die Verfassungsrevision hat sich „fonction publique“ ausführlich mit dem Vorsitzenden der parlamentarischen Verfassungskommission, Paul-Henri Meyers, über die Änderungen am Grundgesetz unterhalten
fonction publique: Herr Meyers, am 3. Dezember 2008 deponierte die Regierung in der Abgeordnetenkammer ein Gesetzprojekt, laut dem der Artikel 34 des Grundgesetzes abgeändert werden sollte. Am 9. Dezember wurde die Verfassungsänderung vom Staatsrat begutachtet und bereits am 11. Dezember 2008 wurde diese Verfassungsrevision in erster Lesung von der Kammer ohne Gegenstimme angenommen. In gut 8 Tagen das Grundgesetz ändern, ist das die Art und Weise, wie man mit der Verfassung umgehen soll?
P.H. Meyers: Sie kennen die Ursachen und Umstände, die zu der Verfassungsänderung des Artikels 34 des Grundgesetzes geführt haben. Sowohl die Regierung als auch das Parlament haben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Art der Verfassungsänderung nicht die Regel ist und dass die gewählte Vorgehensweise nur gerechtfertigt war im Hinblick auf eine sich anbahnende institutionelle Krise. In der Regel sollen Änderungen am Grundgesetz stets wohlbedacht sein und nur nach reiflicher Überlegung vorgenommen werden.
fonction publique: In seinem Gutachten vom 9. Dezember 2008 über die Revision des Artikels 34 hat der Staatsrat seine Besorgnis ausgedrückt über die zunehmenden Änderungen der Verfassung. Seit 2003 sei die Verfassung wenigstens zehn Mal abgeändert worden. Der Staatsrat spricht von einer Banalisierung der Verfassungsänderungen.
P.H. Meyers: Sicher ist die Verfassung in den letzten 15 Jahren öfters abgeändert worden als in den 100 Jahren vorher. Die vorgenommenen Änderungen am Grundgesetz waren immer begründet und ich erinnere mich nicht, dass der Staatsrat mit irgendeiner dieser Änderungen nicht einverstanden war. Wenn in den letzten Jahren die Verfassungsänderungen häufiger werden und sich in manchen Fällen förmlich aufdrängten, kann man dafür mehrere Ursachen anführen.
Das Grundgesetz unseres Landes datiert aus dem Jahre 1868. Es ist noch weitgehend ein Spiegelbild der Auffassungen über die Rechte der Bürger und der Aufteilung der Gewalten im Staat aus vergangenen Tagen.
Die vorgenommenen Änderungen seit 1995 hatten zum Ziel, die Verfassung an die Erfordernisse unserer Zeit anzupassen.
Nehmen wir einige Beispiele:
In dem Kapitel über die Grundrechte der Bürger stellen wir folgende Änderungen fest (in Klammern das Jahr der Abänderung):
– die Gleichstellung von Mann und Frau (2006);
– den Schutz des Privatlebens (2007);
– den Schutz der Umwelt (2007);
– die Abschaffung der Todesstrafe (1999);
– die Anpassung der Pressefreiheit (2004);
– die Anpassung der Versammlungsfreiheit (1999).
Im Jahre 1995 wurde im Rahmen einer Reform des Staatsrats eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit geschaffen. Mit der gleichzeitigen Einsetzung eines Verfassungsgerichtes kann in Luxemburg, wie in allen anderen modernen Staaten, die Vereinbarkeit der Gesetze mit der Verfassung überprüft werden. Übrigens sind einige Verfassungsänderungen die Folge von Entscheidungen der „Cour constitutionnelle“.
Im Bereich der institutionellen Änderungen verweise ich hauptsächlich auf die Revision im Jahre 2004 der Verordnungsgewalt („pouvoir reglementaire“), eine Reform, die nach verschiedenen Entscheidungen des Verfassungsgerichts unumgänglich war.
Die Schaffung von Einrichtungen öffentlichen Rechts („établissements publics“) wurde 2004 in der Verfassung verankert (Art. 108bis).
Einige Bestimmungen, die die Abgeordnetenkammer betreffen, sind den heutigen Erfordernissen angepasst worden, so die Regelung über das Votum der Gesetze im Plenum. Eine Einschränkung der Immunitätsbestimmungen der Parlamentarier (Art. 68 und 69 der Verfassung) schützt, seit der Reform von 2006, die Abgeordneten nur noch soweit, wie es zur Ausübung ihrer öffentlichen Funktion notwendig ist.
fonction publique: Sie haben nicht erwähnt, dass in den letzten Jahren auch die Art und Weise der Verfassungsänderung neu geregelt wurde?
P.H. Meyers: Ja, die Verfassungsreform vom 19. Dezember 2003 hat den Werdegang einer Revision des Grundgesetzes neu geregelt. Nach den vorherigen Bestimmungen musste die Abgeordnetenkammer jede Verfassungsänderung ankündigen mit der Angabe des zu ändernden Artikels. Mit dieser Ankündigung war die Kammer aufgelöst. Die neu gewählte Kammer konnte nun die Verfassungsartikel abändern, die von der aufgelösten Kammer als revisibel erklärt wurden.
Nach der Reform von 2003 kann die Kammer jederzeit eine Verfassungsänderung vornehmen mit der Auflage einer zweifachen Abstimmung, wobei eine Frist von wenigstens 3 Monaten zwischen der ersten und der zweiten Abstimmung einzuhalten ist.
Neu ist, dass nach der ersten Abstimmung der angenommene Text durch ein Referendum von den Wählern verworfen werden kann, wenn in den 2 Monaten nach der letzten Abstimmung ein solches Referendum beantragt wird von wenigstens 16 Abgeordneten oder von 25.000 Wählern.
Symbol der nationalen Einheit und Garant der Unabhängigkeit
fonction publique: Diese Prozedur soll jetzt bei der Abänderung von Artikel 34 zur Anwendung kommen. Die Initiatoren des Referendums sind der Meinung, die verfassungsmäßigen Zuständigkeiten des Großherzogs würden durch die Revision von Artikel 34 eingeschränkt.
P.H. Meyers: Der Großherzog steht als Staatsoberhaupt über dem politischen Geschehen. Gemäß dem am 12. Januar 1998 abgeänderten Artikel 33 der Verfassung ist der Großherzog als Staatsoberhaupt ein Symbol der nationalen Einheit und der Garant der Unabhängigkeit unseres Landes. Die Person des Staatsoberhauptes ist unantastbar. Alle Entscheidungen des Großherzogs müssen von einem Regierungsmitglied gegengezeichnet sein, das damit die volle Verantwortung trägt. Ohne die verantwortliche Zustimmung der Regierung kann der Großherzog keine Entscheidungen treffen. Die in Artikel 34 vorgesehenen Zuständigkeiten des Großherzogs, besonders seine Zustimmung zu den von der Kammer angenommenen Gesetzen, könnte daher, im Lichtblick aller den Großherzog betreffenden Bestimmungen der Verfassung, als eine prozedurale Intervention angesehen werden. Eine Abschaffung dieser Billigung der Gesetze durch den Großherzog schwächt daher nicht im Wesentlichen seine Zuständigkeiten. Im Gegenteil, diese Änderung stützt seine Unabhängigkeit und fördert die demokratischen Institutionen des Landes. In seiner Neujahrsansprache hat übrigens der Großherzog die Zustimmung zu den vorgesehenen Verfassungsänderungen klar zum Ausdruck gebracht.
fonction publique: In seinem Gutachten vom 9. Dezember 2008 hat der Staatsrat zusätzliche Verfassungsänderungen vorgeschlagen. Die Abgeordnetenkammer hat diese Änderungen nicht angenommen. Was waren die Beweggründe der Kammer, diesen Vorschlägen nicht zu folgen?
P.H. Meyers: Der Staatsrat hat eine Änderung des Artikels 46 vorgeschlagen, der, in seiner jetzigen Ausdrucksweise, der gesetzgebenden Funktion nicht vollständig Rechnung trägt. Der Artikel besagt, dass die Kammer ihre Zustimmung zu den Gesetzesvorschlägen gibt. Aus dieser Textformulierung könnte man schlussfolgern, dass eine andere Instanz die Gesetze stimmt und die Kammer nur ihre Zustimmung gibt. Verfassungsrechtlich ist die Abgeordnetenkammer, nach der Reform des Artikels 34, die einzige gesetzgebende Gewalt.
Die Kammer hat dem Vorschlag des Staatsrats keine Folge geleistet, weil es unumgänglich sein wird, kurzfristig auch andere Verfassungsartikel abzuändern. Die zuständige Parlamentskommission für Verfassungsrevisionen will in den nächsten Monaten ihre Arbeiten zur Neuordnung der Verfassung abschließen und zusätzliche sich aufdrängende Abänderungen vorschlagen.
fonction publique: Was verstehen Sie unter Neuordnung der Verfassung?
P.H. Meyers: An denen im Laufe der Zeit vorgenommenen punktuellen Verfassungsänderungen lassen sich einige Mängel feststellen, besonders was die Zusammengehörigkeit verschiedener Bestimmungen betrifft.
Einzelne Kapitel, besonders dasjenige, das die Regierung betrifft, ist in dem jetzigen Verfassungstext so knapp reduziert, dass es den Funktionen und Zuständigkeiten der Regierung nicht Rechnung trägt.
In der Verfassung fehlen gänzlich die Bestimmungen über die Thronfolge, die ausschließlich im Familienvertrag des Herrscherhauses festgehalten sind.
fonction publique: Was will die Verfassungskommission bei der Thronfolge ändern?
P.H. Meyers: Nach dem geltenden Recht des Familienvertrages des Hauses Nassau-Weilburg hat der männliche Nachkomme Vorrecht vor den weiblichen Nachkommen. Dies widerspricht den von unserem Land ratifizierten internationalen Verträgen, u.a. dem Vertrag der Vereinten Nationen über die Gleichstellung von Mann und Frau. Unser Land hat sich verpflichtet, in allen Bereichen, so auch bei der Nachfolge des Staatsoberhauptes, diese Bestimmungen zu beachten. Mit der Einschreibung in die Verfassung der Bestimmungen über das Erbfolgerecht des Großherzogs wird aber klar zum Ausdruck gebracht, dass diese Bestimmungen einen Teil unseres Verfassungsrechts darstellen und nicht nur durch einen Familienvertrag des Hauses Nassau aus dem Jahre 1783 geregelt werden.
fonction publique: Sie haben angedeutet, dass auch die Verfassungsbestimmungen betreffend die Regierung abgeändert oder ausgebaut werden.
P.H. Meyers: Die Regierung selbst hat am 4. Mai 2004 eine Verfassungsrevision bei der Abgeordnetenkammer eingereicht mit dem Ziel, die Artikel 76 bis 83 des Grundgesetzes abzuändern.
Die zuständige Parlamentskommission nutzt diesen Regierungstext als Basisdokument, um ihre eigenen Textvorschläge auszuarbeiten. Nicht zurückbehalten wurden jene Bestimmungen, die inhaltlich nur die regierungseigenen Verhältnisse regeln sollen.
In der Verfassung wird erstmalig festgelegt, dass die Regierung sich zusammensetzt aus einem Premierminister, einem oder mehreren Vizepremierministern, aus Ministern und Staatssekretären.
Auch der Regierungsrat wird als kollektives Regierungsorgan in der Verfassung erwähnt.
Ausführlich werden die politischen sowie die zivilen und strafrechtlichen Verantwortlichkeiten der Regierungsmitglieder geregelt. Politisch ist die Regierung vor der Abgeordnetenkammer verantwortlich. Eine neue Bestimmung in der Verfassung hält ausdrücklich fest, dass die neu gebildete Regierung, nach der Regierungserklärung, sich dem Vertrauensvotum der Kammer stellen muss. Wenn die Kammer das Vertrauen verweigert, muss die Regierung dem Großherzog ihre Demission einreichen.
fonction publique: Können die Regierungsmitglieder jederzeit im Plenum das Wort ergreifen und können sie an den Kommissionssitzungen teilnehmen?
P.H. Meyers: Die Regierungsmitglieder können an allen öffentlichen Sitzungen der Kommission teilnehmen und sie müssen angehört werden, wenn sie das Wort verlangen. Regierungsmitglieder können vor der Abgeordnetenkammer nur das Wort ergreifen in ihrer Eigenschaft als Minister oder Staatssekretär, nicht als Privatperson. Regierungsmitglieder können auch an den Kommissionssitzungen teilnehmen. Es ist fast zur Regel geworden, dass an allen Kommissionssitzungen auch das zuständige Regierungsmitglied teilnimmt.
fonction publique: Werden auch im Zuständigkeitsbereich der Abgeordnetenkammer wesentliche Änderungen vorgenommen?
P.H. Meyers: Im Vergleich zu andern staatlichen Institutionen sind unter dem Kapitel der Abgeordnetenkammer wenig Änderungen vorgesehen. Die Zuständigkeiten der Kammer sind schon im Text des Grundgesetzes von 1868 ausführlich geregelt.
Eine wichtige Neuerung ist die Einschreibung in die Verfassung der sogenannten „initiative législative populaire“. Dieser Text soll den Bürgern erlauben, nach Bedingungen und Modalitäten, die noch zu regeln bleiben, der Abgeordnetenkammer Gesetzesvorlagen zu unterbreiten, die von der Kammer öffentlich diskutiert werden müssen und über deren Werdegang die Kammer dann durch ein Votum entscheidet.
fonction publique: Die jetzige Verfassung enthält verschiedene Artikel, die sich ausdrücklich auf die öffentliche Funktion und auf die Rechte und Pflichten der Staatsbeamten beziehen. Welche Änderungen sind im Hinblick auf diese Bestimmungen vorgesehen und wie verhält es sich mit dem Treueid der Staatsdiener?
P.H. Meyers: Die in der jetzigen Verfassung eingeschriebenen Artikel 10bis (2), 30, 31, 35 und 103 werden ohne Abänderung in dem Verfassungsvorschlag übernommen. Das heißt, dass u.a. der Treueid auf den Großherzog sowie die Verpflichtung zur Verfassungs- und Gesetzestreue seitens der Beamtenschaft in ihrer jetzigen Form unangetastet bleiben.
Die Verfassung an die Herausforderungen der gewandelten Wirklichkeit anpassen
fonction publique: Wie dem auch sei: Man kommt nicht daran vorbei festzustellen, dass unser Grundgesetz, an dem – Sie gestatten den Ausdruck – seit vielen Jahren in Bruchstücksarbeit „geflickschustert“ wird, zu einer permanenten, nicht endenden Baustelle wurde. Dabei sollte doch eine Verfassung Bestand haben und nur in großen Abständen und mit größter Sorgfalt und Zurückhaltung dem Wandel der Zeit angepasst werden. Ein Anliegen, dem Sie doch als Verfassungsexperte zustimmen müssten?
P. H. Meyers: Ich teile Ihre Aussage, dass die Verfassungsbestimmungen nicht ständig abgeändert werden dürfen. Das Grundgesetz muss Bestand haben. Allerdings habe ich schon darauf hingewiesen, dass die Verfassung unseres Landes weitgehend noch die wortmäßigen Bestimmungen von 1868 enthält. Ein Außenstehender, der die Luxemburger Verfassung liest, ohne die besonderen Verhältnisse zu kennen, kommt zur Schlussfolgerung, dass unser Land noch nach den staatsrechtlichen Auffassungen des 19. Jahrhunderts regiert wird. Daher auch der Vorschlag der zuständigen Parlamentskommission, die Verfassung an die Herausforderungen der gewandelten Wirklichkeit anzupassen.
fonction publique: Zum Schluss noch eine Frage zur Staatsform. Premier Juncker unterstrich kürzlich in einem Interview zum Jahreswechsel die Vorzüge der Monarchie für unser Land. Zitat: „Was die angesprochene Staatskrise anbelangt, so bleibe ich dabei, dass die Monarchie die ideale Staatsform für ein Land wie Luxemburg ist, das auf einen Staatschef nicht verzichten kann, der über politischen Parteien und gesellschaftlichen Strömungen steht.“ Wie stellen Sie sich zu dieser grundsätzlichen Frage?
P.H. Meyers: Ich teile ohne Einschränkung diese Aussage, weil ich der Überzeugung bin, dass die Monarchie für unser Land eine gute Staatsform ist, die sich im Laufe der Zeit immer wieder bewährt hat und auch in Zukunft die Ausstrahlung Luxemburgs in der Welt und den Zusammenhalt der Nation am besten gewährleistet.
fonction publique: Herr Meyers, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Quelle: fonction publique, Januar 2009, (JD)