Obama steht vor einer Herkulesaufgabe

Barack Obama hat eine unendlich lange Strecke zurücklegen müssen, bevor die Amerikaner bereit waren, ihn zu ihrem 44. Präsidenten zu wählen. Seine demokratischen Mitbewerber hat er einen nach dem anderen aus dem Feld schlagen müssen, das Ringen mit Hillary Clinton hat ihn bis weit in den Sommer hinein wertvolle Kräfte gekostet, er musste sich wegen früherer Bekanntschaften peinlichst rechtfertigen und sich gegen die absonderlichsten Vorwürfe und Unterstellungen wehren, da man ihn abwechselnd als Terroristen, als Terroristenfreund oder als Sozialisten beschimpfte. Jean-Claude Juncker schreibt im Rheinischer Merkur

Sein größtes "Handicap" war seine Hautfarbe, doch mit seinem Afro-Amerikanertum ist er über Monate so souverän umgegangen, dass es in der Zielgeraden des Wahlkampfes kaum noch Erwähnung fand. Amerika hat nicht erst am Wahlabend aufgehört, das Land der Rassentrennung zu sein. Am 4. November abends wurde dem definitiven Ende des Bürgerkrieges und seiner nicht enden wollenden Nachhutgefechte die notarielle Beglaubigung ausgestellt. Colin Powell, Condoleezza Rice und viele farbige Senatoren, Abgeordnete und Bürgermeister haben Obama den Weg geebnet. 

Trotzdem: Die Wahl des ersten Schwarzen ins Weiße Haus war und bleibt ein bewegendes Ereignis, das Geschichte gemacht hat und das Geschichte machen wird. Wir haben den inneren Versöhnungsakt der amerikanischen Nation live erlebt, wir waren gerührt und berührt. Irgendwie hatten wir das Gefühl, diesen Moment mit herbeigeführt zu haben. Obama war ja der Kandidat der Europäer. Gott sei Dank haben ihn die Amerikaner für sich und für uns ins Amt getragen. 

Weil Europa Obama als Präsidenten wollte, denkt die Mehrheit der Europäer, er würde auch ihr Präsident werden. Man wünscht sich allenthalben in Europa, Obama möge der europäischste aller amerikanischen Präsidenten werden, mit denen wir es zu Lebzeiten zu tun hatten.
Barack Obama wird die große Hoffnung, die die Europäer in ihn setzen, sicherlich nicht enttäuschen. Aber ebenso sicher ist, dass er nicht alle unsere Erwartungen erfüllen wird Ganz einfach, weil er sie nicht alle erfüllen kann. 

Vieles wird im amerikanisch-europäischen Verhältnis besser werden. Die neue Administration wird europäische Befindlichkeiten mit in den Stoff einfließen lassen, aus dem sie ihre Politik machen wird. Obama wird den Europäern auch dort zuhören, wo Gespräche mit seinem Vorgänger müßig bis überflüssig waren. Er wird nicht unilateralen Sirenengesängen folgen, sondern wird einen Hang zur multilateralen Analysen- und Aktionsmethode erkennen lassen. Er wird die klimapolitische Blindheit der Bush-Jahre abschütteln und sein Land resolut auf Zukunftskurs bringen. Die Dissenspunkte mit Amerika werden abnehmen, die Konsensmenge wird zunehmen. 

Doch der von manchen europäischen Beobachtern nach der Obama-Wahl erzeugte Eindruck, die USA und Europa würden ab sofort gemeinsame Weltpolitik aus einem Guss gestalten und praktizieren, ist fahrlässig. Barack Obama wurde von den Amerikanern, nicht von den Europäern gewählt. Mithin wird er seine Politik prioritär an der amerikanischen Interessenlage ausrichten. Er setzt damit eine Tradition fort, die alle seine Amtsvorgänger ohne Ausnahme gepflegt haben. Und er wird – weil er die Europäer ernst nimmt – seine transatlantischen Partner mit Wünschen und Forderungen konfrontieren, auf die diese eine schlüssige und nach Möglichkeit einmütige Antwort geben müssen. Er wird ein stärkeres Engagement der Europäer in Afghanistan anmahnen, um zusätzliche Stabilisierungsbeiträge im Irak bitten, erhöhte europäische Verteidigungsanstrengungen einfordern. Das Wort eines gerechteren "bürden sharing" und einer Neujustierung der Lastenteilung im atlantischen Bündnis wird bald wieder die Runde machen. 

Unter dem Strich wird es so sein, dass die Beziehungen zwischen den USA und Europa normaler werden. Ab dem 20. Januar 2009 wird in Europa niemand mehr amerikanische Wünsche mit dem Hinweis auf Divergenzen mit Bush ablehnen können. Das Bush-Alibi wird nicht mehr greifen. Ende Januar sind wir wieder mit den Amerikanern allein. Mit einem Unterschied: Amerika wird dann von einem weltweit geachteten und in Europa höchst beliebten Präsidenten geführt werden. 

Der neue Präsident wird sich während seines ersten Mandats voll auf sein eigenes Land konzentrieren müssen. Die USA sind in zwei Kriege verwickelt, die Finanz- und Wirtschaftskrise zieht weite Kreise, die Arbeitslosigkeit steigt, das Haushaltsdefizit erreicht unvorstellbare Ausmaße, 48 Millionen US-Bürger warten auf eine angemessene Krankenversicherung, die Amerikaner haben kein Geld gespart und haben kein Geld zum Ausgeben. Obama steht vor einer Herkulesaufgabe. Wenn er sie meistert, wird er seinem Land und der Welt zum Segen gereichen. Barack Obama ist zu wünschen, dass die Begeisterung, die ihn weltweit trägt, lange anhält – länger jedenfalls als der Zauber, der in jedem Anfang steckt. 

Quelle: Rheinischer Merkur, 13. November 2008