„Aufeinander angewiesen“

Vor dem EU-Sondergipfel: Wort Interview mit Premierminister Jean-Claude Juncker

INTERVIEW: JAKUB ADAMOWICZ 

Im Vorfeld des EU-Sondergipfels zum Konflikt zwischen Georgien und Russland am heutigen Montag in Brüssel unterhielt sich das „Luxemburger Wort“ mit Premierminister Jean-Claude Juncker über den Kriegsausbruch in der Peripherie Europas, die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland und die Herausforderungen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU.

Wort: Herr Premierminister, hat Sie der Ausbruch des Krieges auf dem Südkaukasus am 8. August überrascht?

JCJ: Er hat mich nicht absolut überrascht, weil ich aus meinen Gesprächen in Moskau Ende April wusste, dass es nach der Kosovo-Anerkennung russische Auffassung war, dass sich die Lage in Südossetien und Abchasien zu verändern drohte. Präsident Dmitri Medwedew und Premierminister Wladimir Putin sagten mir, dass es nicht russische Außenpolitik sein könnte, Südossetien und Abchasien in die Unabhängigkeit zu führen, es sei denn, es käme zu Provokationen seitens Georgiens.

Wort: Was empfinden Sie, wenn in der Peripherie Europas ein Krieg ausbricht?

JCJ: Diese Gewaltentladung macht mich zutiefst betroffen. Krieg ist nicht der Normalfall. Krieg ist das Gegenteil von Zivilisation. Krieg ist immer das Resultat von „objektiven Gefechtslagen“, wird immer vorbereitet durch rhetorisch überzogene Diskurse, die dann nach Erfüllung des Angekündigten rufen, und ist im Endeffekt das Ergebnis von dramatischen Missverständnissen.

Wort: Die Zivilbevölkerung bezahlt für die Fehler von Staatenlenkern?

JCJ: Dieser kurze Krieg im Südkaukasus hat erneut gezeigt, dass die Menschen, welche kaum Einfluss auf die Ereignisse haben – Frauen, Kinder, alte Männer, richtig oder fehl geleitete junge Männer – die ersten Opfer derartiger Exzesse sind. Als ob die Menschheit sich informell darauf verständigt hätte, immer wieder dieselben Fehler zu begehen. Man wundert sich über das Unvermögen, trotz eines gehobenen Wissensstandes dies nicht in Gemeinsamkeit mit anderen verhindert haben zu können.

Wort: Beide Kriegsparteien haben über- zogen reagiert?

JCJ: Die georgische und die russische Seite müssen genauso wie die EU und die Nato anerkennen, dass wir aller Welt deutlich gemacht haben, wie wir zur perfekten Form der Staatsführung nur annähernd fähig sind. Die georgische Seite ist nicht frei von fehlerhaftem Verhalten. Die russische Seite hat disproportioniert reagiert.

Wort: Welche Lehre ziehen Sie aus dem Südkaukasus-Krieg?

JCJ: Der exklusive Waffendiskurs führt zum Unglück der Völker. Es ist dringend notwendig, die Gesprächskanäle mit Russland offen zu halten. Wer nicht miteinander spricht und verhandelt, der lässt die Waffen sprechen. Das haben wir hier erlebt.

Wort: Worauf sollte sich die EU auf dem Sondergipfel verständigen?

JCJ: Die EU sollte sich darauf verständigen, dass der vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy tugendhaft herbeigeführte Waffenstillstand auf Basis seines 6-Punkte-Vorschlages millimetergenau umgesetzt werden sollte. Die EU verurteilt den Angriff auf die territoriale Integrität Georgiens. Es kann zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht sein, dass der militärisch Überlegene auch politisch Recht hat. Es kann nicht unilateral auf Basis von militärischer Stärke zu einer neuen Grenzziehung kommen.

Wort: Eine Verurteilung der Unabhängigkeitsanerkennung?

JCJ: Die EU wird zum Ausdruck bringen, dass wir die einseitige Anerkennung der Unabhängigkeitsbestrebung von Südossetien und Abchasien durch Russland in keinerlei Weise teilen und dies als eklatanten Bruch des Völkerrechtes halten, weil sie auf eine einseitige Neugrenzziehung hinausläuft.

Wort: Würden Sanktionen gegen Russland Sinn machen?

JCJ: Ich bin sehr dezidiert der Auffassung, dass wir Sanktionen im engeren Sinne des Wortes nicht als ein angemessenes Mittel der EU-Reaktionen auf die russischen Übergriffe auf das georgische Staatsterritorium anpeilen sollten.

Wort: Die EU könnte die Lockerung der Visa-Vorschriften aufschieben?

JCJ: Kein „business as usual“. Aber „no business“ wäre falsch. Verzögerungen zusätzlicher Bewilligungen von Visa-Anfragen aus Russland wären nicht angemessen, es sei denn, die russische Seite würde sich zu sehr vom Sarkozy-Plan verabschieden. Am 14. November auf dem Russland-EU-Gipfel müssen diese Punkte zusammen geführt werden.

Wort: Deutschland kommt bei der Ausarbeitung einer EU-Position zu Russland eine Schlüsselrolle zu. Wo steht Bundeskanzlerin Angela Merkel?

JCJ: Ich habe mich vergangene Woche zwei Mal lange mit der deutschen Bundeskanzlerin über die georgische Krise unterhalten. Ich teile die Einschätzung, dass Deutschland zu voreiligen Schlüssen nicht bereit ist.

Wort: Sind die unterschiedlichen Befindlichkeiten mit Russland innerhalb der EU eine Belastung?

JCJ: Unter anderem Polen und die baltischen Staaten haben 50 Jahre unter sowjetischer Dominanz gelitten. Wir sollten im Westen Europas nicht den arroganten Einschätzungsfehler machen, die besondere Befindlichkeit unserer Freunde in Polen und im Baltikum zu unterschätzen.

Wort: Ist Russland eine Bedrohung?

JCJ: Russland ist keine globale Bedrohung. Die regionale Bedrohung in Form des Südkaukasus-Krieges muss gestoppt werden, damit aus ihr keine globale erwachsen kann.

Wort: Kann die EU ihre Sichtweisen auf einen Nenner bringen?

JCJ: Die europäische EU-Klugheit wird darin bestehen, die Befindlichkeiten und verbleibenden Ängstlichkeiten der Mittel- und Osteuropäer in Kombination zu bringen mit der etwas resoluter-perspektivischen Sichtweise der Westeuropäer.

Wort: Hätte es der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik geholfen, wenn der Vertrag von Lissabon bereits in Kraft wäre?

JCJ: Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist – bevor sie Gegenstand eines Vertrags wird – eine Frage politischen Willens. Ich bedauere im georgisch-russischen Zusammenhang sehr, dass einige Kollegen und Freunde in Mittel- und Osteuropa die Perspektive einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik fast in Abrede stellen. Wenn wir eine gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit festgezurrten politischen Ansichten hätten, wären europäische Positionen sehr klar.

Wort: Hat die EU im Südkaukasus versagt?

JCJ: Der französische Staatspräsident hat sich in seiner Eigenschaft als EU-Ratsvorsitzender im richtigen Moment eingebracht und dadurch innerhalb weniger Tage zu einem Schweigen der Waffen im Südkaukasus geführt. Keine andere Macht der Welt, weder die USA noch China, hätten innerhalb weniger Stunden einen Waffenstillstand herbeiführen können.

Wort: Entwickelt sich zwischen Russland und der EU ein neuer Kalter Krieg?

JCJ: Ich bin allergisch gegen den Satz, dass wir am Anfang eines Kalten Krieges stehen würden. Es ist mir noch sehr geistesgegenwärtig, wie im östlichen Teil Europas stationierte Raketen auf den westlichen Teil Europas gerichtet waren und umgekehrt. Ich wünsche mir nicht die Rückkehr dieses frostigen Klimas und sehe uns nicht am Anfang eines neuen Kalten Krieges.

Wort: Wie wichtig ist Russland für die EU?

JCJ: Wir sind auf Russland als Sicherheitspartner und Energiezulieferer in Europa angewiesen. Als Europäische Union sollten wir sehr deutlich zum Ausdruck bringen, dass dies ein „politisches Geschäft“ ist, das auf Gegenseitigkeit beruht: Russland wird sich ohne sichere Energiekunden im Westen auf einen gesamtwirtschaftlichen Volksbankrott hin bewegen.

Wort: Die EU bleibt nach wie vor allem ein Friedensprojekt?

JCJ: Wovon ich dachte, dass es in Europa nie mehr passieren könnte nach dem revolutionären Einschätzungswandel Anfang der 1990er-Jahre, hat sich wiederholt. Das bekräftigt mich in meiner Theorie und Angst, dass das Thema Krieg und Frieden ein europäisches Thema bleibt und dass sich diese Frage immer wieder stellen wird.

Wir bedanken uns für das Gespräch, Herr Premierminister.

Quelle: Luxemburger Wort, 1. September 2008, Seite 2