Freude über Europas und Deutschlands Einheit

Beitrag von Jean-Claude Juncker im Rheinischer Merkur: “Geschichte macht sich nicht selbst, sie wird von Menschen gemacht”

VON JEAN-CLAUDE JUNCKER
Wenn die Geschichte sich nur langsam bewegt, dann beklagen wir ihren Immobilismus. Wir vergessen über der vorwurfsvollen Klage, dass die Geschichte nur deshalb nicht weiterkommt, weil wir auf der Stelle treten. Doch die Geschichte macht sich nicht selbst, sie wird von Menschen gemacht. Sie findet nur dann statt, wenn Menschen sie anstoßen. Wenn die Geschichte ihr Tempo steigert und uns fast außer Atem bringt, dann schnappen wir nach Luft und beklagen uns über die uns abverlangten Rhythmussprünge. Und wir vergessen: Nicht die launige Geschichte drückt aufs Tempo; es sind die Menschen, die aufs Gaspedal drücken. Wir Menschen haben die Wahl: Entweder bremsen wir die Geschichte oder wir geben ihr Schwung. Das ewige Hadern mit der Geschichte kann man an unserem Verhalten der letzten 60 Jahre ablesen.

Am Tag nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 haben sich tugendhafte Menschen überall in Europa das Wort gegeben, den kehrreimmäßig wiederholten Nachkriegssatz "Nie wieder Krieg" zum politischen Programm zu machen. Der Grundgedanke war: Nie wieder Krieg. Das Instrumentalprogramm war: Die transnationalen Solidaritätswerke müssen sich zur absoluten Friedensschnittmenge verdichten.
Die Menschen in Deutschland, in Frankreich, in den Ländern Europas, die machtlos zu Opfern der deutsch-französischen Feindschaft wurden, haben Krieg endgültig abgelehnt und den Frieden definitiv gewollt. Sie wollten der Geschichte eine andere Richtung geben. Und sie haben ihr eine andere Richtung gegeben. Frieden statt Krieg. Und heute? Heute beklagen wir uns eher über Europa, als dass wir uns an seinen Erfolgen freuen.

Nach dem Krieg wurde das Nicht-Europa bekämpft. Heute bekämpfen wir das integrierte Europa, weil es für viele des Europäischen zu viel wird. Fazit: Die Menschen von gestern haben Europa gewollt, die Menschen von heute möchten es eingrenzen.

Heute möchten wir einen Prozess stoppen, den die Menschen der Kriegsgeneration aus Verzweiflung angestoßen haben. Sie haben den europäischen Integrationsprozess angestoßen, weil sie ihren Kindern ein besseres, ein friedlicheres Leben organisieren wollten. Heute scheint es vielfach so, als ob die Kinder ,in der Sonne des Nachkriegsfriedens aufgewachsen, das Rad der Geschichte zurückdrehen möchten.

Unsere Eltern haben der europäischen Geschichte eine andere Richtung gegeben. Viele von uns und viele unserer Kinder möchten nun wieder in eine andere Richtung, eine Richtung zurück zum egoistischen Nationalstaat. Unsere Eltern haderten – zu Recht – mit der Geschichte, weil sie sich in die falsche Richtung bewegte. Die jetzige Generation hadert mit ihr, weil sie denkt, sie bewege sich in die falsche Richtung. So sind wir Menschen: Wir denken immer, die geschichtliche Richtung wäre nur dann in unserem Interesse, wenn sie in die andere Richtung verliefe.

 

Von 1945 bis 1989 haben die Menschen unter der Logik des Kalten Krieges gelitten. Es waren Jahrzehnte der Angst: Man hatte Angst vor dem Atomkrieg, man dachte, vom Gleichgewicht des Schreckens werde nur der Schrecken übrig bleiben. Doch heute reisen wir unbehelligt von KGB und angeschlossenen Überwachungsanstalten nach Moskau, nach Bukarest und nach Sofia. Heute treffen wir an westeuropäischen Stranden und in westeuropäischen Landschaften Menschen aus Tallinn, aus Warschau und Sankt Petersburg.

Anstatt uns darüber zu freuen – das heißt, uns mit der von Menschen gemachten neuen Geschichte anzufreunden -, klagen wir über die "kontinentale Nivellierung" und fühlen uns von den Menschen aus Mittel- und Osteuropa bedroht. Wie sie es macht, die Geschichte macht es falsch. Dabei wurde sie von Menschen aus Ost und West, vor allem von Menschen aus Mittel- und aus Osteuropa, gemacht. Zu unser aller Wohl.

Unter der deutschen Teilung haben die Deutschen und die Europäer aus Ost und West gelitten. Bis 1989 haben wir uns über die deutsche Teilung beklagt. Wir haben die Aufteilung nicht gemocht, die die Nachkriegswirklichkeit uns Tag für Tag vorführte: Freiheit im Westen, Unterdrückung auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Jetzt ist die Freiheit überall, auch wenn der gleichmäßig verteilte Wohlstand ihr nachhinkt. Heute beklagen viele Deutsche sich über die Kosten der Wiedervereinigung, so als ob die Freiheit einen Preis hätte.

Wie wäre es, wenn wir uns an dem seit 1989 Erreichten erfreuen würden? Wie wäre es, wenn wir uns darüber freuen würden, nach Erfurt, Leipzig und Potsdam reisen zu können, ohne zurückgeschickt zu werden? Und wenn die Deutschen sich an die Zeit um den Tag der Deutschen Einheit herum über diese Einheit, die eine europäische Einheit ist, freuen würden? So wie im November 1989, als ost- und westeuropäische Geschichte und Geografie sich wiederfinden ließen. Weil die Menschen es so wollten.

 

Weil sie Geschichte machten. Weil sie es leid waren, dass die Geschichte gegen sie Geschichte macht.

 

Quelle: RHEINISCHER MERKUR, 04. Oktober 2007