„Aussonderung hat Konsequenzen“

Sozialwort der katholischen Kirche: Gespräch mit Marie-Josée Jacobs, Ministerin für Familie und Integration
Seit Herbst 2006 befasst sich die katholische Kirche in Luxemburg auf Einladung von Erzbischof Fernand Franck mit der Ausarbeitung eines Sozialwortes. In ganz unterschiedlichen Gremien und Organisationen, in Pfarrverbänden und kirchlichen Dienststellen werden zu den Themen Armut, Arbeit und Beschäftigung, Migration und Flucht, Erziehung und Bildung, Familien- und Lebensfragen sowie Politik schriftliche Eingaben formuliert. Auch Politiker setzen sich mit den im Sozialwort thematisierten Fragen auseinander. Mit Familienministerin Marie-Josée Jacobs unterhielt sich das Wort über den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, über Armut und die Rolle der Christen in diesem Kontext.

Der Zusammenhalt in unserer modernen Gesellschaft soll gestärkt werden. Worin besteht für Sie eine gelungene “cohésion sociale”?

Die soziale Dimension Europas und damit der Begriff der “cohésion sociale” stehen zunehmend im Mittelpunkt der politischen Diskussion. “Cohésion sociale” wird allgemein umschrieben als die Fähigkeit der Gesellschaft, das Wohlbefinden aller ihrer Mitglieder zu sichern. Dies bezieht sich nicht nur auf den finanziellen Wohlstand, sondern umfasst alle Lebensbereiche.

Eine gelungene soziale Kohäsion erfordert meines Erachtens ein politisches Handeln, das am Ziel der sozialen Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Zu einem solchen Handeln gehören z. B. staatliche Transferleistungen, Integrationsprogramme für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, Verbesserung der Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Eingliederungsmaßnahmen für anerkannte Flüchtlinge und vieles mehr. “Cohésion sociale” ist gewährleistet wenn, bei Bedarf, jeder Bürger von der gemeinsamen Solidarität getragen wird und jeder Bürger, nach Möglichkeit, selbst zu dieser Solidarität beitragen kann.

Luxemburg gehört zu den reichsten Ländern der Welt. Wie stehen Sie dazu, dass trotzdem so viele Menschen mit einem Armutsrisiko leben müssen?

Diese Frage wird in letzter Zeit häufig gestellt. Man ist geneigt zu meinen, in einem reichen Land wie Luxemburg dürfe es gar kein Armutsrisiko geben. Dass die Statistiker trotzdem ein solches feststellen, hängt zunächst damit zusammen, dass die Mitgliedsstaaten der europäischen Gemeinschaft übereingekommen sind, Armut als ein relatives, monetäres Phänomen zu begreifen, das nach bestimmten Indikatoren jährlich berechnet und aufgezeichnet wird. Dazu gehören die so genannte Armutsrisikogrenze und der daraus errechnete Armutsrisikoquotient. So gilt als armutsgefährdet, wer mit einem Einkommen von weniger als 60 Prozent des statistischen Durchschnittseinkommens seines Landes auskommen muss.

Laut dieser Statistik lebten im Jahre 2005 in Luxemburg 13 Prozent der Bevölkerung mit einem Monatseinkommen unter 1 423 Euro (Einzelperson), respektive 2 989 Euro (Haushalt von zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren). Wenn man genauer hinschaut, kann man feststellen, wer stärker betroffen ist und welches die Risikofaktoren sind. So sind zum Beispiel Arbeitssuchende oder Einelternfamilien einem stärkeren Risiko ausgesetzt. Auch die Zahl der Kinder oder das Fehlen von Wohneigentum kann sich verschärfend auswirken. Ich meine, diese Indikatoren sind wichtig, damit man rechtzeitig auf signifikante Entwicklungen reagieren kann. Man sollte daraus aber nicht schließen, in Luxemburg gäbe es eine beängstigende Zunahme der Armut. Der Prozentsatz der Armutsgefährdeten schwankte im Laufe der vergangenen zwölf Jahre immer zwischen elf und 13 Prozent. Im Vergleich zu den übrigen Mitgliedsstaaten ist dies einer der niedrigsten Prozentsätze. Hinzu kommt, dass das Einkommen der Hälfte der Betroffenen immerhin noch bei über 80 Prozent dieser Armutsrisikogrenze liegt, was nicht zuletzt auf unser gut funktionierendes Sozialsystem und die Absicherung durch das Mindesteinkommen zurückzuführen ist.

Mit dieser Klarstellung möchte ich nichts verniedlichen. Jeder einzelne Mensch, der in Armut lebt, ist einer zuviel. Darüber hinaus ist auch die beste finanzielle Absicherung keine Garantie gegen Bedürftigkeit. Durch Krankheit, Überverschuldung oder diverse Schicksalsschläge kann es trotz finanzieller Absicherung zu Engpässen kommen, aus denen Betroffene aus eigenen Kräften nicht mehr herausfinden. Der Staat sollte alles dran setzen, auch jenen zu helfen, die so durch die Maschen des Sozialnetzes fallen. Dieser Wunsch wurde neulich auch in der Abgeordnetenkammer deutlich zum Ausdruck gebracht, in Form einer parlamentarischen Motion, in der die Regierung aufgefordert wurde, baldmöglichst einen Gesetzesentwurf zur Reform der alten Gesetzgebung über die kommunalen Hilfsdomizile vorzulegen.

Mein Ministerium hat, zusammen mit dem Innenministerium und weiteren Sachverständigen, einen entsprechenden Vorentwurf bereits ausgearbeitet und ich hoffe, ihn demnächst meinen Regierungspartnern unterbreiten zu können.

Das Sozialwort der katholischen Kirche soll zum gesamtgesellschaftlichen Dialog beitragen. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen und Möglichkeiten für Christen, am gesellschaftlichen Zusammenhalt mitzuwirken?

Die Christen sind nicht nur dem Appell der Menschenrechte, sondern besonders auch der Botschaft des Evangeliums verpflichtet. Die Worte und Taten von Jesus überraschen, ja verärgern mehr denn einmal seine Zeitgenossen und Jünger. Jesus gibt sich ab mit den Außenseitern der Gesellschaft. Verarmte, Fremde, Prostituierte, Kranke, Behinderte, Kollaborateure der Besatzungsmacht, Betrüger: Jesus sucht sie auf, er ist Gast in ihren Familien, er tröstet, er hilft und heilt, er versöhnt sie mit sich selber, mit ihren Nächsten und mit Gott, ja, er bestellt sie in seinen Dienst. Solidarität, Integration, Partizipation – Begriffe, die wir so in der Bibel nicht finden, die aber sehr anschaulich dort vorexerziert werden – nicht selten zum Verdruss des “establishment” der damaligen Zeit! Dieses bedingungslose Engagement für die Menschen ist für Jesus eine reiche Form des Gottesdienstes, und er stellt es über etwaige religiöse Formalismen.

Auch unsere Gesellschaft heute braucht Frauen und Männer, die aus ihrer christlichen Hoffnung heraus und mit viel Zivilcourage die Anwaltschaft der Armen und Ausgesonderten übernehmen – am Arbeitsplatz, auf dem Wohnungsmarkt, in Schulen oder Kindertagesstätten, in den Medien oder im Freundeskreis. Auch unsere Zeit bleibt angewiesen auf das großzügige berufliche und ehrenamtliche Engagement in der Sorge um die Menschen am Rande: Opfer von Gewalt, psychisch Kranke, demente Senioren, Alkoholiker und Fixer, Jugendliche und Erwachsene ohne echte Berufschancen, Enttäuschte und Resignierte. Erlauben Sie mir ein sehr erbauliches Beispiel unter vielen anderen: die unentgeltliche Hausaufgabenhilfe in Flüchtlingsheimen.

Es geht dabei nicht um “Mitleid” oder um christliche “Opferbereitschaft”. Jede aktive oder auch bloß geduldete Form der Aussonderung hat verheerende Konsequenzen: sie zerstört die “Opfer”, sie pervertiert die “Täter”, sie lähmt vorhandene Ressourcen, sie schafft Angst und Unsicherheit, sie fördert Aggressivität und “Krieg”.

Quelle: Wort, 16. März 2007, Mireille Sigal