Erna Hennicot-Schoepges, Europadeputierte: “Am Scheideweg steht die Europäische Union: gelingt es mit dem Verfassungsentwurf auch die Aufgabenteilung, Subsidiarität genannt, neu zu regeln, dann wird das Modell der solidarischen Politik weiter bestehen können”
Gelingt dies nicht, wird der Rückgriff auf nationalstaatliche Reflexe weiterhin die Arbeit lähmen. Wer, was wo und wie in Angriff nehmen soll muss neu bestimmt und dann tatsächlich in die Wege geleitet werden. Am konkreten Beispiel der Eisenbahnen dokumentiert sich, wie zu wenig europäische Koordination dem Bürger schaden kann. Der Unfall in Zoufftgen hätte vermieden werden können, wären die Systeme von Elektrizität und Warnmeldung grenzüberschreitend abgestimmt gewesen. Mehr Gütertransport auf Europas Schienen ist … möglich wenn die Interoperabilität der Eisenbahnen funktioniert, eine europäische Aufgabe, die noch immer in der Kompetenz der Nationalstaaten ist.
Der Luftraum ist eine ähnliches Thema: würde er offen genutzt, d.h. Flughöhen, überfliegbare Flächen – noch immer sind nicht überfliegbare Militärgebiete eine Einschränkung der kürzesten Flugwege – wäre die Koordinierung der Fluglotsendienste gewährleistet, könnten pro Flug sechs % Kraftstoff eingespart werden. Effizienter für den Klimaschutz demnach als Emissionshandel auf die Fluggesellschaften auszudehnen! SESAR heißt das Forschungs- und Entwicklungsprojekt das 2006 im Europaparlament verabschiedet wurde. Mehr Europa würde auch in diesem Fall Fortschritte für Industrie, den Bürger und die Umwelt bringen.
700.000 Forscher fehlen in Europa um wettbewerbsfähig zu bleiben. 54 Milliarden Euro sind vorgesehen für das siebte Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung. Der neu gegründete Forschungsrat ERC (European Research Council), eine echt gemeinsame Institution, die Exzellenz als oberstes Kriterium ansetzt, und nicht die Nationalstaatlichkeit, hat sieben Milliarden Euro zur Verfügung, um Grundlagenforschung mit den besten Köpfen zu ermöglichen. In Diskussion ist zurzeit das europäische Technologieinstitut (EIT), in dem Forschung, Entwicklung und Innovation, die Industrie, Universitäten und Forschungsinstitute in gemeinsamen Projekten zusammenbringen soll. Andere Probleme wie z.B. Energieversorgung und Klimaschutz sollten wir auch gemeinsam zu lösen versuchen. Dazu brauchen wir mehr Europa. Eine EU die handlungsfähiger werden will, muss ihre Institutionen straffen, ihre Funktionsweise überdenken.
Weniger Reden, mehr Taten, weniger Selbstdarstellung, mehr Lösungen für die Probleme der Bürger, auch bessere Erklärung der europäischen Gesetzgebung, das wäre schon ein Fortschritt. Nach 50 Jahren ist die Bilanz doch recht ansehnlich. Frieden, Bewegungsfreiheit, eine gemeinsame Währung sind markante, nicht klein zu redende Leistungen. Trotzdem bedrücken Zukunftsangst und Unsicherheit die Menschen, daher gibt es weiterhin die Grenzen in den Köpfen. Miteinander umgehen und Zusammenleben können, die eigenen kulturellen Werte und die Entwicklungsgeschichte der Mitbürger, insbesondere der 12 neuen Mitgliedstaaten, schätzen und ehren lernen, das ist Zukunftsprogramm das noch ansteht.
Kultur ist keine europäische Zuständigkeit. Die Seele fehlt. Das Streben nach Marktwerten allein ergibt keine Zukunftsperspektiven, keine Heimat, kein Wir-Gefühl.
Diese europäische Schwäche zu beheben, wäre eine große Aufgabe für die deutsche Ratspräsidentin Angela Merkel.
Erna Hennicot-Schoepges, Europadeputierte