Vor dem Nato-Gipfel in Riga Jean-Louis Schiltz: Umwandlung der Luxemburger Armee und Umorientierung erfordert
d’Wort: Neben der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und Terrorismus ist Afghanistan die gegenwärtige Hauptsorge des Bündnisses. Angesichts der sich rapide verschlechternden Sicherheitslage rückt eine Aufstockung des Nato-Kontingents in den Vordergrund. Wie steht Luxemburg dazu?
Afghanistan ist sicher ein wichtiges Thema. Ich sehe drei Themenbereiche in Riga: 1. Operationen vor Ort, sprich Afghanistan und Kosovo, 2. die Transformation der Nato, 3. Partnerschaften und Beitritte, wobei Afghanistan offensichtlich das Hauptthema sein wird. (…) Dabei geht es neben dem militärischen Engagement auch um den Wiederaufbau des Landes. (…) Die Frage, ob Luxemburg weitere Soldaten entsendet, stellt sich aus praktischen Gründen nicht. Wir haben im Augenblick im Kosovo 23 Soldaten, in Afghanistan zehn Soldaten. Mehr ist einfach nicht möglich (…) Mit Blick auf 2009/10 hat sich Luxemburg auf dem Prager Gipfel 2002 gegenüber der Nato verpflichtet, eine Aufklärungseinheit von 20 Soldaten aufzustellen. Das erfordert eine Umwandlung der Luxemburger Armee und eine Umorientierung (…) Dazu zählt das doppelte Volontariat: Um Planungssicherheit zu haben, müssen die Freiwilligen nach der Grundausbildung entscheiden, ob sie grundsätzlich für Auslandseinsätze zur Verfügung stehen, statt dass sie wie bisher punktuell gefragt werden bei jedem Einsatz und jeder Rotation. Wenn wir ein vollwertiges Mitglied der internationalen Gemeinschaft sein wollen, und das wollen wir, dann müssen wir – immer im Rahmen unserer Möglichkeiten – auch internationale Solidarität beweisen.
d’Wort: Nachdem die Ukraine ihren Beitrittsantrag vorerst auf Eis gelegt hat, sollen in Riga die Nato-Kandidaturen von Kroatien, Albanien und Mazedonien zum Thema werden. Wie stehen Sie zur geplanten Nato-Erweiterung auf dem Balkan, das traditionelle Krisengebiet Europas?
Von Riga wird sicherlich ein positives Signal an die drei Kandidaten ausgehen. Die Position der Luxemburger Regierung ist: Prinzipiell ist die Tür immer offen. Die Entscheidung muss jedoch immer auf Grundlage des Verdienstes gefällt werden: Ein Kandidat ist willkommen, solange er die bestehenden Nato-Spielregeln erfüllt – sprich: Demokratie, Stabilität, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung. Alles in allem sollen die drei Kandidaten ein positives Signal erhalten, selbst wenn in Riga noch keine endgültige Entscheidung zu erwarten ist.
d’Wort: Ein anderes Gipfelthema in Riga ist die Schnelle Eingreiftruppe (Nato Response Force/NRF), die offiziell für einsatzbereit erklärt werden soll und damit binnen fünf Tagen an jedem Ort der Welt eingesetzt werden kann. Wie weit ist Luxemburg davon betroffen?
Wie ich bereits sagte, wir sind mitten in einem Transformationsprozess: die für 2009/10 geplante Aufstellung einer Luxemburger Aufklärungseinheit von 20 Soldaten wird ein Teil der Nato-Eingreiftruppe sein, sie ist gewissermaßen Luxemburgs Beitrag. Die begonnene Transformation der Nato ist kein Selbstzweck, sondern soll den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen begegnen – sei es die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, seien es regionale Konflikte, Menschenrechtsverletzungen oder terroristische Aktivitäten. (…) Ziel war und ist es, die schnelle Eingreiftruppe in Riga für voll operationsfähig zu erklären. Doch dies beinhaltet sowohl eine politische als auch eine militärische Komponente. Es wäre ein gutes Zeichen, wenn dies dort geschieht. Ich sehe das ganze als eine Transformation in der Kontinuität.
d’Wort: Wie hält es Luxemburg mit der Solidarität innerhalb der Allianz?
Wir sind ein Teil der Allianz, doch, wie schon gesagt, jeder sollte nach seinen Möglichkeiten handeln. Wir müssen uns bei der Verteidigung immer bewusst sein, dass wir ein Land von 450 000 Einwohnern sind und eine Armee von 700 Soldaten haben. Wir sollten nicht über das hinausgehen, was wir zu leisten imstande sind, uns aber auch nicht unserer Verantwortung entziehen. (…)
d’Wort: Nun leistet Luxemburg oft vor allem einen symbolischen Beitrag…
Es ist der Ausdruck unserer internationalen Verantwortung und Solidarität, die auch in unserer Entwicklungspolitik zum Ausdruck kommt. Die Missionen im Kongo, Kosovo und in Afghanistan sind mit zwei, 23 bzw. zehn Soldaten nicht nur symbolisch. (…) Wir sind ein vollwertiges Mitglied der internationalen Gemeinschaft. Das bedeutet auch, dass wir als UN-Gründungsmitglied unsere Kandidatur für den Weltsicherheitsrat mit dem Zeithorizont 2013 anmelden, dass wir uns an der Schnellen Eingreiftruppe der Nato beteiligen und uns unserer Verantwortung in der europäischen Verteidigung stellen.
d’Wort: Stichwort Solidarität: In puncto Verteidigungsausgaben stand Luxemburg in der Vergangenheit nicht sonderlich gut da. Müsste Luxemburg nicht mehr als gegenwärtig weniger als ein Prozent seines Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Verteidigung aufwenden?
Erstens müssen wir uns innerhalb der budgetären Vorgaben bewegen, die so sind, wie sie sind. Zweitens muss man Nützliches leisten; Zahlen ohne Inhalt wären Zahlen ohne Wirkung. Drittens machen wir das, was nötig ist, um unseren Verpflichtungen gerecht zu werden. So werden wir zum Beispiel neue Aufklärungsfahrzeuge kaufen, die ersten Schritte sind schon in die Wege geleitet (…) Viertens ist die Verteidigung, wie die Entwicklungspolitik, ein Teil der Außenpolitik, der Diplomatie. Alle drei tragen zur internationalen Sicherheit und Stabilität bei. Deshalb bitte ich darum, die Debatte nicht nur im engen Rahmen militärischer Zahlen zu sehen, sondern eher zu betrachten, was ein Land insgesamt leistet. (…) Ich erinnere daran, dass der Koalitionsvertrag vorsieht, die Verteidigungsausgaben kontinuierlich auf 1,2 Prozent des BIP anzuheben, doch davon sind wir noch weit entfernt. Selbstverständlich müssen wir in den nächsten Jahren auch die militärischen Infrastrukturen überholen: auf dem Herrenberg wollen wir 2007 damit beginnen.
d’Wort: Wie steht Luxemburg zur Idee, integrierte europäische Streitkräfte aufzustellen, wie sie Polens Regierungschef Jaroslaw Kaczynski jüngst aufgeworfen hat?
Es ist eine Grundposition der Regierung, dass die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Nato komplementär sind und nicht miteinander konkurrieren. Die Kongo-Mission hat den Beweis dafür erbracht. Ich plädiere daher für eine parallele Weiterentwicklung beider. Doch wer Komplementarität sagt, sagt auch Koordination, und dies ist der richtige Weg. Alle anderen Ideen schießen über das Ziel hinaus. (…) Die Idee erschwert die Entwicklung eher, als sie zu vereinfachen.
Interview: Wolf von Leipzig
Quelle: d’Wort vom 27. November 2006