Jean-Claude Juncker im Wort-Interview. Was wird aus dem Verfassungsvertrag? Das ist eine der Fragen mit dem sich der Europäische Rat beschäftigen wird.
Wie es aussieht, soll die vor einem Jahr unter luxemburgischem EU-Ratsvorsitz beschlossene Denkpause verlängert werden. Politische Schlussfolgerungen sollen Ende 2008 gezogen werden, so der Premier im Gipfel-Interview. “Wir müssen vor den Europawahlen im Jahr 2009 Klarheit haben”, sagt Jean-Claude Juncker.
Wort: Der Verfassungsvertrag wird ein Hauptthema beim Gipfel der EU-Spitzen sein. Alles deutet auf eine verlängerte Denkpause hin. Wie lange soll Ihrer Meinung nach noch nachgedacht werden?
Jean-Claude Juncker: Nach dem Beschluss des Juni-Gipfels, eine Denkpause einzulegen, wurde in einer ersten Phase vor allem viel pausiert. Der Nachdenkprozess wurde erst später, in einer zweiten Phase, lanciert. Dieser Prozess ist allerdings noch nicht soweit, dass Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Demnach ist eine Verlängerung die einzig richtige Antwort.
Und wie lange soll diese Verlängerung dauern?
Bis der Weg für formulierbare Schlussfolgerungen frei ist. In solchen politischen Schlussfolgerungen müssen sich vor allem aber auch die beiden Länder zurückfinden, die den Vertrag abgelehnt haben. Darüber hinaus darf der Vertrag aus der Sicht derer, die ihm zugestimmt haben, nichts an inhaltlicher Substanz verlieren. Zu diesen Ländern gehört auch Luxemburg. Die Denkbeschleunigungspause an sich ist ein Prozess, der sich über die kommenden Präsidentschaften, inklusive die französische, hinaus- strecken dürfte; also bis Ende 2008. Fest steht, dass wir vor den Europawahlen im Jahr 2009 Klarheit haben müssen.
Ja der Luxemburger hat Verfassungsvertrag am Leben gehalten
Die Luxemburger haben den Verfassungsvertrag am 10. Juli 2005 per Referendum gutgeheißen. Ist dieses Ja angesichts der aktuellen Debatte nicht gegenstandslos?
Es war das Ja der Luxemburger, das den Vertrag am Leben gehalten hat. Die Debatte, die jetzt läuft, wurde überhaupt erst durch das Votum vom 10. Juli möglich. Dieses Votum verpflichtet auch inhaltlich. Das heißt, dass wir in der Praxis keine inhaltliche Ergänzung oder Erklärung des Vertrags akzeptieren, die in ihrer Substanz von dem abweicht, was die Luxemburger an den Urnen akzeptiert haben.
Sie sprechen von Ergänzungen und Erklärungen. Wird es einen neuen Verfassungsvertrag geben? Wird nachverhandelt?
Ob nachverhandelt wird, oder nicht, weiß ich nicht. Persönlich bin ich der Meinung, das wir kein neues Vertragswerk brauchen, sondern eine Bereicherung des aktuellen Grundtextes. Dieser Meinung sind auch andere meiner Amtskollegen. Zum Beispiel der spanische Regierungschef Zapatero.
Grundtext, Vertrag – ist es Absicht, dass Sie das Wort Verfassungsvertrag nicht mehr gebrauchen?
Durch das Wort Verfassungsvertrag wird der Eindruck vermittelt, als eigne sich die EU verstärkt Attribute einer eigenen Staatlichkeit an. Und das auf Kosten der einzelnen Mitgliedstaaten. Das sorgte für Irritationen bei den Bürgern.
Nein zu einem integralen Föderalismus
Das Konzept Vereinigte Staaten von Europa ist für Sie also kein gangbarer Weg?
Nationen kann man nicht abschaffen. Unser Ziel muss es sein, die richtigen Schnittmengen an europäischer Souveränität zu einem Ganzen zu bündeln. Das Konzept Vereinigte Staaten von Europa machte und mache ich mir nicht zu eigen. Ich sage nein zu einem integralen Föderalismus.
Alles deutet auf eine Verlängerung der Verfassungsdebatte hin. Besteht da nicht die Gefahr, dass die Handlungsfähigkeit der EU leidet? Wie steht es um die Durchschlagskraft Europas ohne neuen Vertrag?
Wir müssen eben ein Maximum aus den bestehenden Verträgen herausholen. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die Strategie der Europäischen Kommission vom Europa der Resultate. Europa muss an dem gemessen werden können, was es leistet.
Das heißt in anderen Worten, man will den Bürgern Europa besser erklären. Hat die Denk- und Diskussionspause, also der ominöse Plan D, in eben diesem Punkt denn schon Konkretes gebracht?
Es ist uns erkennbar nicht gelungen, den Menschen Europa näher zu bringen. Wobei in den vergangenen Monaten eine ganze Reihe Entscheidungen getroffen worden sind, die den Sorgen und Ängsten der Bürger Rechnung tragen. Ich denke da zum Beispiel an die Abänderung der Bolkestein-Richtlinie. Es bestand die Gefahr von erheblichem sozialen Dumping. Hier wurde gegengesteuert. Was die Europadebatte in Luxemburg anbelangt, so fehlt es dieser an Intensität und an Substanz. Das hat nichts mit dem europapolitischen Engagement der Parteien und Politiker zu tun. Wir müssen aber die öffentliche Debatte über Europa verstärkt führen.
Über Aufnahmefähigkeit der EU nachdenken
Stichwort Erweiterung: Auch das wird in Brüssel ein zentrales Diskussionsthema sein. Ist bereits jetzt mit einer Festlegung der 25 in dieser schwierigen Frage zu rechnen?
Die Kommission wird den Auftrag erhalten, bis Ende des Jahres intensiv über die Aufnahmefähigkeit der EU nachzudenken; über sämtliche Facetten dieser Aufnahmefähigkeit. Dazu gehören nicht nur finanzielle Komponenten. Diese Arbeit der Kommission soll unter finnischem Ratsvorsitz in eine globale Debatte münden. Danach ist es an den Staats- und Regierungschefs klare Signale zu setzen.
Steckt hinter der Debatte über die Aufnahmefähigkeit nicht zuletzt die Frage nach den geografischen Grenzen der EU?
Das sind zwei verschiedene Debatten, die Sie da ansprechen. Je nachdem wie die Frage der Aufnahmefähigkeit beantwortet wird, können sich daraus natürlich Konsequenzen für die Diskussion über die Grenzen der Europäischen Union ergeben.
Und wie aufnahmefähig ist die EU Ihrer Meinung nach aus heutiger Sicht?
Ohne neue Zusammenfügung der Vertragstexte ist nach dem Bei-tritt Kroatiens keine weitere Erweiterung vorstellbar noch machbar.
Zum Themenkreis Erweiterung gehört auch die Türkei-Frage. Wie geht es weiter in diesem Dossier?
Die Außenminister haben Anfang der Woche den Weg freigemacht für den Beginn von Verhandlungen mit Ankara. Dabei bleibt es bei der prinzipiellen Haltung, dass es sich um einen offenen Prozess mit der Türkei handelt.
Verhandlungen ist nicht gleich Beitritt.
So ist es. Es ist ein offener Prozess. In 15 oder 20 Jahren wird sich herausstellen, ob die Türkei in der Lage ist, reguläres Mitglied der EU werden zu können. Wie gesagt, Verhandlungen müssen nicht unbedingt einen Beitritt zum Resultat haben.
Quelle: Wort, 15. Juni 2006, Marc Glesener, Ady Richard