Kein sozialer Raubzug

Jean-Claude Juncker im Wort-Gespräch über das umfassende Reformpaket. Es konsolidiert die öffentlichen Finanzen, stärkt die Wettbewerbsfähigkeit und schafft Handlungsspielraum für Zukunftspolitiken
Land und Leute müssen den Gürtel enger schnallen. Um die Weichen für die Zukunft stellen zu können, hat die Regierung ein umfassendes Reformpaket vorgelegt. Grundlage sind die jüngsten Abmachungen der Tripartite. In diesen Beschlüssen sieht der Regierungschef eine Bestätigung der politischen Akzentsetzungen von Schwarz-Rot.

Wort: “Herr Premierminister, Sie haben anstrengende Verhandlungsrunden hinter sich. Zuerst die Tripartite, anschließend Erklärung und Debatte zur Lage der Nation, danach dann die Ecofin-Beratungen in Brüssel über wesentliche TVA-Fragen, die ebenfalls von maßgeblicher Bedeutung für die Zukunft des Landes sind. Das waren aufreibende Tage. Was hat Sie am meisten Energie und Einsatz gekostet?”

Regierung lehnt Richtlinienentwurf zur Besteuerung elektronischer Dienstleistungen ab

Jean-Claude Juncker: “Das sind Verhandlungsrunden und Verhandungslogiken, die man nicht miteinander vergleichen kann.

In Brüssel geht es darum, ein bestimmtes Rechtsprinzip zu verteidigen: dass elektronische Dienstleistungen im Ursprungsland besteuert werden. Die EU-Kommission hat hier anders gelagerte Pläne. Sie regt eine Besteuerung im Verbraucherland an. Diese Debatte ist aber nicht neu. Und ich hatte schon am 12. Okober im Parlament darauf aufmerksam gemacht, dass die Regierung diesen Richtlinienentwurf ablehnt. Ich möchte an dieser Stelle aber auch klarstellen, dass die Technologiefirmen, die in Luxemburg aktiv sind, dies keineswegs nur aus fiskalischen Beweggründen tun. Doch nun zurück zu Ihrer Frage: Ich habe die Tripartite-Verhandlungen zu Hause als schwieriger empfunden. Hier ging es um die Beantwortung wesentlicher Zukunftsfragen. In Brüssel muss man argumentieren, kann in letzter Instanz aber auch einfach nein sagen. Dann ist das Dossier gestorben. In Luxemburg konnte und wollte ich das nicht.”

Wort: “Bleiben wir in Luxemburg. Sie haben mehrfach betont, mit dem Resultat der Tripartite zufrieden zu sein. Gab es denn für Sie Genugtuung in wirklich allen Punkten? Was hätte in Ihren Augen anders, besser laufen können?”

Jean-Claude Juncker: Ich hätte mir ein schnelleres Vorankommen gewünscht; eine schnellere Einsicht bei den Sozialpartnern über die finanzpolitischen Zwänge,in denen wir uns befinden. Erst ganz zum Schluss wurde die Feststellung, dass wir die Ausgaben des Staates in den Griff bekommen müssen, von allen am Verhandlungstisch geteilt. Ich hätte mir auch einen resoluteren Einstieg in die Debatte über die künftige Finanzierung unserer Alterssicherungssysteme gewünscht. Hier wurde sich aber immerhin darauf verständigt, in den nächsten Monaten eine Diskussion über den Impakt der demografischen Entwicklung auf die Vorsorgesysteme zu führen.”

Wort: “Und woran lag es, dass die Tripartite in dem von Ihnen skizzierten Themenfeld nicht richtig vorangekommen ist?”

Jean-Claude Juncker: “Weil die Partner in dieser Runde, die für Anfang Mai abschließen musste, sich nicht einvernehmlich auf Schlussfolgerungen einigen konnten. Die Diskussion, die ich für eine der wichtigsten Herausforderungen überhaupt halte, ist allerdings längst nicht vom Tisch.”

Deutliche Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit

Wort: “Zurück zu den konkreten Ergebnissen: Was ist für Sie die größte Errungenschaft dieser Tripartite-Runde? Worauf sind Sie besonders stolz?”

Jean-Claude Juncker: “Es geht nicht um meine Gefühlslage. Ziel war es, eine deutliche Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen. Ziel war es, die Staatsfinanzen zu konsolidieren. Hätten wir das nicht fertig gebracht, wäre das vor allem auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit, auf Kosten der Wirtschaft gegangen. Es wäre zu weiteren Defizitbildungen gekommen, die wir eines Tages über massive Steuererhöhungen hätten abbauen müssen. Oder aber die Schuldenlast des Landes hätte sich in den nächsten drei Jahren verdreifacht.”

Ich bin auch zufrieden, dass eine neue Bereitschaft unter der Sozialpartnerschaft entstanden ist, um gemeinsam mit dem Staat eine verstärkt auf Verantwortungsbewusstsein setzende Beschäftigungspolitik zu betreiben. Ich bin auch froh darüber, dass die neue politische Akzentsetzung der Regierung die Zustimmung der Sozialpartner gefunden hat. Ich denke hierbei vor allem an die Bereitstellung zusätzlicher finanzieller Mittel etwa für die Schule, die Forschung, die Innovation und die Kinderbetreuung. Wir konnten uns auf die neuen Prioritäten öffentlichen Handels einigen und deren Finanzierung auch gewährleisten. Dazu gehört in aller erster Linie die Modulierung der Index-Regelung. Hier gab es einen Konsens, ohne dass dadurch Sozialkonflikte provoziert worden wären. Insgesamt gesehen ist das erzielte Resultat keines für das man sich zu entschuldigen braucht. “

Wort: “Für das Resultat brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen. Aber wie reagieren Sie auf die kritischen Wortmeldungen von Verhandlungspartnern unmittelbar nach der Besiegelung des Tripartite-Konsenses?”

Jean-Claude Juncker: “Erfahrungsgemäß kommentiert nach der Tripartite jeder der beteiligten Partner das Resultat aus seiner Sicht. Um bei seiner eigenen Basis ein gutes Bild abzugeben. Es ist nicht am Regierungschef, dazu Stellung zu beziehen. Würde ich das tun, in dem ich zum Beispiel, auf die Forderungen bezogen, die Ausgangslage bei den Sozialpartnern und das erzielte Resultat vergleiche, würde ich zur Schlussfolgerung kommen, dass sich in vielen Gläsern deutlich mehr Wasser als Wein befindet. ”

Klein- und Mittelbetriebe profitieren weniger stark von maximaler Indextranche

Wort: “Herr Juncker, Sie selbst hatten im Oktober 2005 die Einführung einer maximalen Indextranche ins Spiel gebracht. Wäre mit einer solchen Maßnahme nicht ein sozial gerechterer Weg beschritten worden?”

Jean-Claude Juncker: “Selbstverständlich hätte ich eine vernünftige Lösung im Zusammenhang mit einer maximalen Indextranche befürwortet. Vorausgesetzt natürlich, die Höhe dieser Tranche wäre vernünftg ausgefallen. Anderthalbmal den Mindestlohn, wie von den Arbeitnehmern gefordert, das war für uns nicht ausreichend. Bei der Diskussion über eine Maximaltranche darf man auch nicht vergessen, dass Klein- und Mittelbetriebe weniger stark von einem solchen Modell profitieren würden als Konzerne, die sich in der Gewinnzone befinden.

Was den Entlastungseffekt in seiner Gesamtheit angeht, so sind maximale Indextranche und die beschlossene Modulierung fast identisch.”

Wort: “Identisch sicher, aber vom Standpunkt der sozialen Gerechtigkeit aus betrachtet unterschiedlich?”

Jean-Claude Juncker: “Ich möchte eines klarstellen: Wir organisieren keinen sozialen Raubzug. Das Gesamtresultat des Maßnahmenpakets ist von seinem Kostenpunkt her günstiger für die, die weniger verdienen. Von sozialer Unausgewogenheit kann keine Rede sein. Bis 2009 werden insgesamt drei Indextranchen fällig. Das bedeutet, dass die Löhne automatisch um 7,5 Prozent wachsen werden. Wie gesagt, sozialer Kahlschlag ist das nicht. – Ich möchte eins klar und deutlich sagen: Man sollte nicht ständig den einen oder anderen Punkt aus dem geschnürten Paket herausgreifen und analysieren. Es handelt sich bei dem Maßnahmenkatalog um ein Gesamtpaket, das auch als solches zu bewerten ist. “

Wort: “Zum Gesamtpaket gehört ebenfalls die Lohnmoderation im öffentlichen Sektor. Von einer abgemachten Nullrunde will die CGFP allerdings nichts wissen. Ein Missverständnis?”

Jean-Claude Juncker: Das ist eine Kontroverse, die ich durchstehen werde. Wobei diese nicht so wichtig ist wie in den Medien dargestellt. Um Ihnen eine Größenordnung zu geben: Es geht um weniger als 20 Millionen Euro im Jahr. Was stellt dieser Betrag angesichts des gesamten Sparvolumens von 1,5 Milliarden Euro dar? Die CGFP hat in den Abschlussdokumenten der Tripartite zur Kenntnis genommen, dass die Regierung in den Jahren 2007 und 2008 eine Lohnpause einlegen möchte. Die Gewerkschaft hat kein Einverständnis gegeben, die Absicht der Regierung war ihr aber bewusst. Ich habe der Gewerkschaft ausdrücklich gesagt, welches die Pläne der Regierung sind. Im späten Herbst, wenn wir die Lohnverhandlungen aufnehmen, werden wir weitersehen. Fest steht, dass die Regierung an ihren Vorstellungen festhält. Wobei ich es nicht zulassen werden, dass der Eindruck entsteht, als blase die Regierung zur Hetze gegen die Staatsbeamten. Das lasse ich nicht zu. Versuche in diese Richtung werde ich nicht unbeantwortet lassen.

Wort: “Sie haben in Ihrer Rede die Notwendigkeit eines Politikwechsels angekündigt. Ein Politikwechsel setzt einen Mentalitätswandel voraus. Ist die Zeit Ihrer Meinung nach reif für einen regelrechten Paradigmenwechsel? “

Jean-Claude Juncker: “Wenn ich mir das Resultat anschaue, auf das sich Politik und Sozialpartner geeinigt haben, kann ich nicht erkennen, wo die Politik die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben soll.”

Wort: “Das sehen nicht alle politischen Beobachter so.”

Jean-Claude Juncker: “Sie sagen aber nicht, was anders laufen sollte, wo diese ominösen Strukturrefomen ansetzen sollen, die permanent angemahnt werden. Wo bleiben die konkreten Vorschläge?”

Wort: “Sie haben selbst das Spannungsfeld zwischen demografischer Entwicklung und der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme angesprochen. – Dort müssten Strukturen verändert werden.”

Jean-Claude Juncker: “Das sehen Regierung und Sozialpartner ein. Sie haben ja vereinbart, über den Impakt der Alterung der Bevölkerung auf die sozialen Sicherungssysteme zu diskutieren. Dazu gehört auch das Thema Lebensarbeitszeit.”

Wort: “In Ihren Augen sind also alle Zukunftsfragen geklärt oder zumindest angerissen worden?”

Jean-Claude Juncker: “Alle Zukunftsfragen sind nie geklärt.”

Quelle: Wort, 9. Mai 2006, Journalisten Paul Lenert, Marc Glesener