Auf die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Europarat und EU zielt ein Bericht von Jean-Claude Juncker ab. Insbesondere bei Menschenrechtsfragen spielt der Europarat eine zentrale Rolle
Premierminister Juncker stellt am 11. April 2006 in Straßburg den Abgeordneten des Europarats seinen Bericht über eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen dem Europarat (Europa der 46) und der EU25 vor. Jean-Claude Juncker im Wort-Interview: “Immer wenn ich im Europarat rede, denke ich an das berühmte Wort Winston Churchills von 1947. Wir fangen im Westen an, was wir eines Tages im Osten vollenden werden.”
Wort: Herr Premierminister, wie kam es dazu, dass Sie als Luxembuerge Regierungschef mit der Ausarbeitung eines Berichts über die Beziehungen zwischen EU und Europarat beauftragt wurden?
Jean-Claude Juncker: Ein Mann denkt, die Frage, wie die Jungfrau zum Kind kommt, wäre immer einfach, weil das Procedere klassisch ist. Tatsache ist, dass der polnische Staatspräsident und der polnische Ministerpräsident im Mai letzten Jahres für die Präsidentschaft im Europarat zuständig waren und mit der Idee des Berichts an mich herangetreten sind. Das hat auch dem Wunsch der meisten Mitgliedstaaten entsprochen, weil ich nicht nur der dienstälteste Regierungschef der EU bin, sondern mich als einziger auch von jungen Jahren an für den Europarat interessiert habe. Weil ich schon die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung des Europarats während meines Studiums in Straßburg intensiv verfolgt habe, bin ich schon früh zu der Einschätzung gelangt, dass der Europarat die eigentliche europäische Schaltstelle ist. Mein einziger Wunsch war, dass ich den Bericht in meinem Namen und mit meinen persönlichen Einsichten erstellen kann.
Dieselbe kontinentale Idee und Geisteshaltung
Wort: Kritisiert wurden oft Überschneidungen in der Zuständigkeit zwischen beiden Organisationen …
Jean-Claude Juncker: Europarat und Union verbindet dieselbe kontinentale Idee und dieselbe Geisteshaltung, wie Europa als Ganzes zu gestalten ist. Es unterscheidet sie die Unterschiedlichkeit der Strukturen. Die EU hat Souveränitätsrechte übertragen bekommen, ohne dass aus ihr ein föderaler Staat nach amerikanischer Prägung entstanden wäre. Immerhin ist aber eine politische Organisation eigener Art, mit supranationaler Intensität und Funktionalität entstanden und deshalb auch mit eigener Gesetzgebungsbefugnis. Der Europarat bleibt eine intergouvernementale Einrichtung, allerdings unterlegt mit einem parlamentarischen Arm. Es gibt also eine funktionale Divergenz zwischen beiden Einrichtungen und es gibt klar erkennbare Schnittmengen und das ist die Problemmasse zwischen beiden. Diese Problemmasse kommt konstitutiv deshalb zustande, weil die EU denkt, viel weiter zu sein als der Europarat. Und dieser wiederum denkt, nicht die selben Dinge bewegen zu können wie die EU und zieht daraus ein in meinen Augen total unberechtigtes Gefühl der Frustration und entwickelt einen Minderwertigkeitskomplex. Dieser wird auch dadurch dauerhaft genährt, weil die EU und als ihr Sprachrohr die Kommission sich in Straßburg nicht gerade durch bescheidenes Auftreten auszeichnen. Deshalb kommt es jetzt darauf an, den Europarat in seiner Funktion und Nützlichkeit aber auch in seiner Funktion des kontinentalen Brückenschlags zu bestätigen. In Aufgaben, die die EU so nicht leisten kann. Es ist sehr darauf zu achten, dass hier nicht stupide Rivalität und lächerliche Kompetenzkonkurrenz stattfinden. Der Europarat wird und muss die europäische Referenzadresse für die Menschenrechte bleiben. So wäre ein Konkurrenzkampf der Europäischen Menschenrechtsagentur, die gerade von der EU auf die Beine gestellt wird, mit den Menschenrechtskontrollmechanismen des Europarats grundfalsch.
Wort: Muss es die Agentur überhaupt geben?
Jean-Claude Juncker: Ich bin schon der Meinung, dass das universelle Thema Menschenrechte auch eine Konstante der EU-Innenpolitik sein muss. Ich kann aber nicht erkennen, wieso sich die Agentur jetzt auch in territoriale Zuständigkeiten des Europarats einmischen soll. Ich meine, dass beide eine insgesamt kohärente und kongruente europäische Zuständigkeit in Menschenrechtsfragen für sich beanspruchen. Ich hätte aber gern, dass wir uns auf dessen Expertisen verlassen, der sich um diese Fragen gekümmert hat, bevor die EU auch nur im Entferntesten daran dachte, sich damit zu beschäftigen. Wenn es also beispielsweise um Menschenrechtsprobleme in der Ukraine geht, bedarf es keiner gesonderten Sondierungsmission der EU. Der Europarat kann diese Arbeit allein perfekt leisten und besser als die EU. Zusammengefasst: Ich hätte gern etwas weniger Minderwertigkeitskomplexe beim Europarat und etwas mehr Bescheidenheit bei der EU.
Ausbau der institutionnelen Zusammenarbeit zwischen EU und Europarat
Wort: Einen guten Ruf hat sich der Europarat mit seinen Monitoring-Berichten erworben, bei denen die Rechtsstaatlichkeit und demokratische Entwicklung, vor allem in den osteuropäischen Mitgliedsländern unter die Lupe genommen werden. Wie könnten diese besser von der EU genutzt werden?
Jean-Claude Juncker: Ich bin der Auffassung, dass sowohl die Kommission als auch der Ministerrat sich, wann immer es nur geht, auf die Ergebnisse der Überprüfungen des Europarats verlassen. Der früher für die Erweiterung zuständige Kommissar Verheugen hat dies richtig erkannt, indem er eine Anfrage an den Menschenrechtsbeauftragten des Europarats hinsichtlich der Menschenrechtssituation in den damaligen zehn Kandidaten- und heutigen neuen Mitgliedsländern gerichtet hat. Wieso sollte sich die EU bürokratisch für eine solche Überprüfung gewaltig aufrüsten, wenn diese Arbeit in Straßburg beispielhaft geleistet wird? Der Menschenrechtskommissar ist einfach die zentrale Stelle auf dem europäischen Kontinent, wenn es um Grundrechte geht. Jeder in der EU sollte begreifen, dass die Menschenrechtsfragen beim Europarat gut aufgehoben sind. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Europarat mit seiner Untersuchung der CIA-Gefangenenflüge enorm viele Fragen aufgeworfen hat. Dazu hat der in der EU für Justiz und Innere Angelegenheiten zuständige Kommissar Frattini alle Unterlagen der europäischen Flugsicherung Eurocontrol über Flugbewegungen der US-Flugzeuge zur Verfügung gestellt. Das nenne ich eine vernünftige Art der Zusammenarbeit, die institutionalisiert ausgebaut werden muss.
Wort: Beinhaltet der Juncker-Bericht auch Vorschläge zur Reform des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg?
Jean-Claude Juncker: Nein, darum habe ich mich bewusst nicht gekümmert, weil eine Weisengruppe unter der Ägide des früheren Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg, Iglesias, damit befasst ist. Ich bringe aber gern zum Ausdruck, dass es mir gefiele, wenn alle Institutionen der EU und des Europarats so intensiv zusammenarbeiten würden wie der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg und der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Es handelt sich um eine hochprofessionelle intensive Zusammenarbeit, die nur deshalb nicht für Schlagzeilen sorgt, weil sie gut funktioniert.
“Der Europarat ist kein Warteraum für zukünftige EU-Mitglieder”
Wort: Im Rahmen der Terrorismusbekämpfung gibt es weltweit Versuche, die Grundrechte zu beschneiden. Sehen Sie hier den Europarat besonders gefordert?
Jean-Claude Juncker: Der Europarat hat sowohl eine wissens- als auch eine gewissensbildende Aufgabe. Es geht um die Notwendigkeit des Kampfes gegen eine fast tödliche Gefahr für die europäische Art und Weise des Zusammenlebens. Dennoch muss der Europarat dafür sorgen, dass das bürgerliche Recht nicht unter die Dampfwalze der Terrorismusbekämpfung gerät. Der größte Sieg des Terrorismus würde darin bestehen, dass die europäischen Gesellschaften ihre bürgerlichen Freiheiten untergraben und diese nur noch in Ausnahmefällen zuließen. Nein, diese Freiheiten dürfen nur dort eingeschränkt werden, wo sie den Terroristen Tür und Tor öffnen. Um diese schwierige Aufgabe kümmert sich besonders verdienstvoll die Venedig-Kommission. Ich hätte gern, dass die EU der Europäischen Menschenrechtscharta und auch der Venedig-Kommission beitritt, um deutlich zu machen, dass es hier nicht nur eine Schnittmenge zwischen EU und Europarat gibt, sondern auch eine Identität der Ansichten.
Wort: Welche Rolle kann der Europarat bei den so genannten gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen EU und Resteuropa, etwa auf dem Balkan, Ukraine, den Kaukasusrepubliken übernehmen, der Europarat quasi als Wartesaal für die EU-Mitgliedschaft?
Jean-Claude Juncker: Ich war nie der Auffassung, dass der Europarat der Exklusivwarteraum für zukünftige EU-Mitglieder ist. Es gibt unter den Europaratsmitgliedern viele, die nie EU-Mitglieder werden können. Der Respekt vor den Menschen in diesen Ländern gebietet es, dass sie den Europarat als ein in sich geschlossenes System für den europäischen Kontinent betrachten. Leider wenden sich manche EU-Staaten vom Europarat ab, was viele auch unwissentlich tun. Die EU-Außenminister nehmen nicht mit der gebotenen Intensität an den Sitzungen des Ministerkomitees des Europarats teil. Ich bin der Auffassung, dass man auch zu einer anderen Form der Benennung des Generalsekretärs des Europarats kommen sollte. Unabhängig von den ehemals und den zurzeit handelnden Personen halte ich es nicht für angemessen, dass er aus den Reihen der Parlamentarischen Versammlung heraus gewählt wird. Ich hätte gern eine intensive politische Zusammenarbeit zwischen EU und Europarat, mit dem EU-Ratspräsidenten, dem EU-Kommissionspräsidenten und dem Generalsekretär in Form eines nach fester Tagungsordnung funktionierenden einmal jährlich stattfindenden Spitzentreffens. Der Europarat gewänne, wenn sein Spitzenrepräsentant jemand wäre, der zum europäischen Führungspersonal gehört hat oder gehört.
Wort: Wird der Europarat auch in zehn bis 20 Jahren noch eine Daseinsberechtigung haben?
Jean-Claude Juncker: Der Europarat wird solange Bedeutung haben, wie die europäischen Dinge nicht endgültig in Ordnung gebracht worden sind. Er wird solange an Bedeutung gewinnen, solange Menschen unterschiedlicher geografischer und kultureller Herkunft versuchen, europäische Dinge gemeinsam zu gestalten. Er wird so lange aktuell bleiben, wie die Menschenrechts- und die Kriegs- und Friedensfrage auf dem europäischen Kontinent nicht endgültig beantwortet ist. Er wird solange an Bedeutung gewinnen, wie Kultur-, Bildungs- und Jugendaustausch nicht vollständig gelöst sind. Und weil all dies nie endgültig sein wird, wird der Europarat eine unsere Lebenszeit weit überdauernde Einrichtung bleiben. Immer wenn ich im Europarat rede, denke ich an das berühmte Wort Winston Churchills von 1947 anlässlich der 1. Tagung der Europabewegung in Den Haag. Wir fangen im Westen an, was wir eines Tages im Osten vollenden werden.
Quelle: Wort, 11. April 2006, Journalist Gerd Werle