Zum heute beginnenden EU-Gipfel äußert sich Staatsminister Jean-Claude Juncker im “Wort”
Die Zukunft der europäischen Energiepolitik steht im Mittelpunkt, wenn sich die EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag zu ihrem Gipfel in Brüssel treffen. Weiter auf der Agenda steht die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie, die von der EU-Kommission angeregte Erleichterung für Unternehmensgründungen sowie die Wachstums- und Beschäftigungsinitiative der EU. “Dass Europa die gemeinsame Energiepolitik als wichtigen Bestandteil einer gemeinsamen Außenpolitik braucht, sehe ich als zwingend an”, erklärt Premierminister Jean-Claude Juncker in einem Gespräch mit dem “Luxemburger Wort” im Vorfeld des Gipfeltreffens. Auch zu den Gründen für seine ablehnende Haltung gegenüber dem Mittal-Angebot für Arcelor bezieht der Luxemburger Regierungschef Stellung.
D’Wort: Herr Barroso hat in seiner Vorschau auf den EU-Gipfel vor “wirtschaftlichem Nationalismus” gewarnt. Hat er bei den Vertretern dieser Haltung auch an Sie gedacht? Schließlich haben Sie sich in Ihrer Ablehnung der Mittal-Offerte für Arcelor – und Ihrem anschließenden Besuch bei Jacques Chirac- recht weit aus dem Fenster gelehnt.
Ich fühle mich von dem, was Herr Barroso als Globalkritik an der Haltung einzelner europäischer Regierungen hervorbrachte, nicht visiert. In einem persönlichen Gespräch habe ich Herrn Barroso erläutert, dass er einen feinen Unterschied machen muss zwischen nationalen Zusammenschlüssen, die sich bilden, um einen ausländischen “Eindringling” in einem bestimmten Bereich der nationalen Wirtschaft abzuwehren, und der ablehnenden Haltung, die entsteht, weil das industrielle Konzept von dem, der eine Firma übernehmen will, nicht schlüssig ist.
Ich habe mich nie gegen das Übernahmeangebot gewehrt, weil Herr Mittal ein Ausländer und “asiatobritischer” Bürger ist, sondern weil sein industrielles Konzept mir nicht gefällt.
Ich sprach mich dagegen aus, weil der Luxemburger Staat ein gewichtiger Aktionär ist, der sich bei der Art und Weise, wie Arcelor geführt wird und den Sozialdialog versteht, besser aufgehoben fühlt. Auch bin ich davon überzeugt, dass wir als Aktionär mehr Geld verdienen in einer unabhängigen Arcelor als in einer Konstruktion, die geografische Komplementaritätsargumente vorschiebt, aber keine mehrwertsteigernde Aktivitäten entwickeln kann.
Ich erkenne mich nicht, wie Herr Barroso aus einem persönlichen Gespräch weiß, in seiner Kritik wieder.
Ich kann verstehen, wenn sich der Kommissionspräsident gegen wirtschaftlichen Patriotismus wehrt, weil wir die Öffnung der Märkte im europäischen Binnenmarkt brauchen. Herr Barroso muss nur gut aufpassen, dass er sich als Präsident der europäischen Kommission nicht andauernd gegen das Lebensgefühl der Menschen, die im Rahmen eines Nationalstaates leben, stellt.
Das ist ein Platz, in dem es einem auf Dauer kalt wird, weil da ist viel Schatten und wenig Sonne.
D’Wort: Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Ihre ablehnende Haltung anders motiviert als die der Franzosen?
Ich will die französische Haltung in der Affaire Suez/Gaz de France nicht inhaltlich kommentieren. Ich bin kein Fachmann in energiepolitischen Fragen, und schon gar nicht von innenpolitischen Zusammenhängen im Rahmen des französischen Nationalstaates. Aber es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen der französischen Haltung gegenüber der Mittal-Offerte und der luxemburgischen, die eher industriell begründet ist als national.
D’Wort: Das Thema Energiepolitik wird bei dem Gipfeltreffen im Mittelpunkt stehen. Wie sollen die Mitgliedsstaaten im energiepolitischen Bereich zusammenarbeiten, wenn sie ihre nationale Zuständigkeit in diesem als strategisch wichtig betrachteten Sektor nicht aufgeben wollen?
Etappenweise muss etwas entstehen, das die Menschen nach innen und nach außen als europäische Energiepolitik begreifen und nachvollziehen können. Auf Grund rezenter Vorkommnisse wurde es deutlich, dass wir in einem exorbitanten Ausmaß abhängig sind von fossilen Energieträgern. Da sind wir Opfer geopolitischer Irrungen und Wirrungen. Es ist in den letzten Monaten klar geworden, dass wir die Versorgungssicherheit in Europa nicht garantieren können. Ich verweise auf den russischen Verknappungsschritt Anfang Januar. Dass Europa sich auf eine Verbreiterung seiner energiepolitischen Autonomie besinnt und dann zwischenstaatlich und unter der Leitung der europäischen Kommission zusammenarbeitet, scheint mir der richtige Weg zu sein.
Und dass die EU sich auf eine energiealternative Umlaufbahn begibt um die Abhängigkeit von den fossilen Energieträgern zu verringern, scheint mir notwendig.
Auch dass Europa die gemeinsame Energiepolitik als wichtigen Bestandteil einer gemeinsamen Außenpolitik braucht, sehe ich als zwingend an. Die energiepolitische Versorgungssicherheit muss ein permanenter Bestandteil der außenpolitischen Konstrukte der Europäischen Union gegenüber Drittstaaten sein.
Darf die Kommission den Mitgliedsstaaten Vorgaben über den “Energiemix” machen?
Theoretisch halte ich das für den richtigen Ansatz. In der Praxis und auf die nationalen Dimensionen zurückgeschraubt halte ich das für einen nicht ausgegorenen Konzeptvorschlag. Denn die energiepolitische Realität von allen Mitgliedsstaaten ist sehr verschieden. Der “Energiemix” ist ein Zukunftsgebot. Das steht außer Frage, weil man sich nicht in totaler Abhängigkeit von nur einem Energieträger befinden kann.
Ob die Europäische Kommission richtig aufgestellt ist, um sich ein Urteil über die energiepolitische Situation eines jeden Mitgliedsstaates oder größerer Regionen einzelner Mitgliedsstaaten zu machen, darüber hege ich erhebliche Zweifel.
Mit dem Konzept eines ausgegoreneren Energiemixes habe ich kein Problem.
Mit einer “Überkonzentrierung” auf die Situation von Nationalstaaten in Form von Empfehlungen der Kommission habe ich jedoch eines, weil ich der Kommission – bei allem Respekt, den ich für diese Institution hege – nicht zutraue, dass sie die Dinge hinter den Dingen sieht.
D’Wort: Unter luxemburgischer Präsidentschaft wurde im März 2005 die Lissabon-Strategie neu belebt. Im Dezember wurde nach vielem Hin und Her eine Einigung über die Finanzierung bis 2013 erzielt. Warum steht die Lissabon-Strategie wieder auf der Agenda, was werden diesmal die Akzente sein?
Bei der Reform und der Belebung der Lissabon-Strategie, die wir unter luxemburgischer Präsidentschaft im März 2005 bewerkstelligten, ging es uns auch darum, mit Hilfe von nationalen Reformprogrammen – eine wichtige Neuerung in der Lissabon-Strategie – dafür zu sorgen, jedes Jahr aus dem Frühjahrsgipfel ein festes Rendez-Vous der Reform in der Europäischen Union zu machen. Jetzt geht es darum, zu bewerten, was in den nationalen Reformprogrammen steht und danach die Prioritäten festzulegen. Bei dieser ersten Reformüberprüfung unter der renovierten Lissabon-Strategie muss deutlich gemacht werden, dass der Dreiklang zwischen wirtschaftlichen Reformen, sozialer Kohäsion und adäquater Umweltpolitik respektiert wird.
D’Wort: Wie sind Sie nach einem Jahr mit der neu belebten Lissabon-Strategie zufrieden? Hält der unter luxemburgischer Präsidentschaft begonnene Elan noch an?
Der erneuerte Lissabon-Prozess beinhaltet die gleichen Gefahrenelemente wie der frühere. Obwohl wir bei dem, was wir im März 2005 als Entscheidungsmasse zusammentrugen, viel Wert darauf legten, dass es zu einer nationalen Aneignung der Lissabon-Strategie kommen müsse, dadurch dass sie – was den nationalen Aspekt davon betrifft – mit den Sozialpartnern und mit den Parlamenten durchgearbeitet und in ihrer Anwendung überprüft wird, ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass viele europäische Regierungen lahmenden Schrittes in den Vollzug der Lissabon-Strategie einsteigen.
Es ist die Aufgabe der österreichischen Präsidentschaft des Europäischen Rates, dafür zu sorgen, dass der belebende Ansatz, den wir im März 2005 gewählt haben, sich auch noch in die nächsten Jahren hineinverlängert.
D’Wort: Mit ihren Amtskollegen Verhofstadt und Balkenende werden sie auf einem Benelux-Gipfel über die Öffnung der Arbeitsmärkte für Arbeitnehmer aus Mittel- und Osteuropa beraten. Sind Sie in diesem Punkt mit den beiden Partnerländern auf einer Wellenlänge?
Wenn wir auf der gleichen Wellenlänge zu dritt in der Benelux wären, brauchten nicht einen besonderen Tagesordnungspunkt zu dem Thema vorzusehen, weil dann könnten wir gleich im kollektiven Gehorsam mitteilen, dass wir einer Meinung sind.
Bei allen Bedenken und Unkenrufen in Luxemburg und anderswo bin ich nachdrücklich der Meinung, dass wir die Mitteleuropäer nicht auf die Art von unserem Arbeitsmarkt aussperren können, wie das bis jetzt der Fall ist. Wegen der Ungeregeltheit besonders bei der Scheinselbstständigkeit halte ich es verfrüht, die Öffnung total durchzuziehen. Prinzipiell bin ich jedoch dafür.
Ich glaube, wir müssen die Liste der Sektoren, die wir öffnen wollen, damit die Arbeitnehmer aus Ost- und Mitteleuropa die Freizügigkeit nutzen können, ausweiten. Diese im Vergleich zum jetzigen Zustand größere Öffnung als bisher wollen wir mit unseren Benelux-Partnern besprechen, um zu einer gemeinsamen Position zu gelangen. Luxemburg muss dabei im Blick behalten, wie seine Nachbarländer und seine Nachbararbeitsmärkte mit dieser Problematik umgehen. Wir wissen, dass Deutschland weiterhin die Möglichkeiten der Schließung des Arbeitsmarkts für Mitteleuropäer nutzen will, während es in Belgien und den Niederlanden Überlegungen gibt, diesen weiter zu öffnen. Wir müssen uns daher beraten, damit wir im Gleichklang, zumindest als Benelux-Länder, auftreten können.
D’Wort: Zwischen völliger Öffnung und dem jetzigen Zustand, wo sehen Sie die Luxemburger Position?
Ich will keine Beispiele von Sektoren nennen, das muss gesondert geprüft werden. Darüber, welche Sektoren im Benelux-Raum und auch national dafür in Frage kommen, finden auf Regierungsebene zur Zeit intensive Gespräche statt.
D’Wort: Auch die Dienstleistungsrichtlinie könnte noch so einiges an Zündstoff bei dem Gipfeltreffen bieten. Unterstützt Luxemburg den Kompromiss, der vom Europaparlament ausgearbeitet wurde?
Wir werden mit unseren holländischen und belgische Kollegen im Detail über die endgültige Haltung beraten, die es gilt, bei den Dienstleistungen zu beziehen.
Die Luxemburger Position ist klar: Wir waren gegen die so genannte Bolkestein-Direktive, weil sie implizit das Risiko eines schon fast gewollten Sozialdumpings beinhaltet, dies zum Nachteil der Beschäftigten. Wir haben uns zwei Jahre lang gegen das Risiko des Sozialdumpings, das dem Richtlinienentwurf anhaftete, ausgesprochen. Wir befinden uns jetzt in Harmonie mit den Vorstellungen des europäischen Parlaments und mit dessen Kompromissvorschlägen. Ich betone – bei aller Benelux-Freundlichkeit – wenn die beiden anderen Mitgliedsstaaten sich von dem Kompromissvorschlag entfernen, werden wir trotzdem nah an dem Vorschlag bleiben.
D’Wort: Sie bestehen also nicht auf Benelux-Harmonie um jede Preis?
Ich bin für Harmonie um jeden Preis, und lasse mich gerne auf Beneluxgipfeln mit in Kölnisch Wasser getauchten Wattebäuschen einreiben. Hingegen lasse ich mich ungern mir Sandpapier pflegen.
D’Wort: Wie sind Sie bislang zufrieden mit der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft?
Es ist eine Präsidentschaft, die sich in schwierigem Fahrwasser bewegen muss, weil große europäische Fortschritte im Augenblick nicht möglich sind. Schließlich ist die Verfassungsfrage ungeklärt. Auch die endgültige Lösung, was die finanzielle Vorausschau anbelangt, ist noch nicht in Sicht, weil es laufende Verhandlungen zwischen dem Europäischen Rat und dem Europaparlament gibt. Die Endresultate in der Finanzierungsfrage werden meiner Meinung nach nahe an die Vorschläge der Luxemburgischen Präsidentschaft vom Juni 2005 herankommen. Dem sehe ich heiter und gelassen entgegen.
Die Österreichische Präsidentschaft ist eine Präsidentschaft, die gut zuhören kann. Eine Präsidentschaft, die umsichtig vorgeht und auch, was Luxemburg angeht, von einer seltenen Konsultationsintensität ist. Ich führe praktisch wöchentliche Gespräche mit dem österreichischen Bundeskanzler.
Diese Präsidentschaft hatte schwierigste Probleme zu lösen, wie etwa die ganze Aufregung um die Mohammed-Karikaturen und die von Russland provozierte Energieverknappung zu Beginn des Jahres. Das war ein weniger schwieriges Fahrwasser als das unsere, weil wir mit dem französischen und dem niederländischen Referendum umgehen mussten. Ich begleite die österreichische Präsidentschaft mit viel Zustimmung und Sympathie.
Die Fragen stellte Pierre Leyers
D’Wort vom 23. März 2006