Vor gut zweieinhalb Monaten wurden die kommunalpolitischen Karten neu gemischt- Interview mit Innenminister Jean-Marie Halsdorf über Koalitionsverhandlungen, Splitting-Lösungen, regionale Zusammenarbeit und Erstgewählte, die leer ausgingen
D’Wort: Herr Minister, nach den Gemeindewahlen vom 9. Oktober und den anschließenden Koalitionsverhandlungen, wie fällt Ihre Bilanz aus? Wurde dem Votum der Wähler überall Genüge getan? In einigen Gemeinden ging der oder die Erstgewählte leer aus: Wie sehen Sie das?
Dazu kann ich leider keine Aussage machen. Es obliegt nämlich nicht dem Innenminister zu kommentieren, welche Wahl die Menschen als Bürger dieses Landes in einem demokratischen System getroffen haben. Das Gesetz sieht vor, dass man, um regieren zu können, eine Mehrheit haben muss. Nehmen wir Esch/Sauer als Beispiel. Der Gemeinderat besteht dort aus sieben Gewählten. Der Bürgermeister konnte sich auf eine Mehrheit von vier Räten stützen. Nun ist er aber mit der Haushaltsvorlage 2006 gescheitert. Jetzt muss sich zeigen, ob sich eine neue Mehrheit von vier, fünf oder gar mehr Räten findet, um die Gemeindegeschäfte weiterzuführen. Es liegt nicht am Innenminister dies politisch auszulegen, geschweige denn zu beeinflussen. Hier spielen oft lokale Gegebenheiten eine wichtige Rolle. Ich persönlich bin zwar der Meinung, dass man politische Mehrheiten nach dem Wählerwillen bilden soll, d. h. diejenigen, die die meisten Stimmen erhalten haben, sollen auch der Reihenfolge nach im Schöffen- bzw. Gemeinderat vertreten sein. Dies ist der Idealfall. Ich weiß aber auch aus Erfahrung, dass das nicht immer so einfach ist. Wenn es also nicht der Fall ist, dann liegt der Ball beim Wähler, bei den nächsten Wahlen jene zur Rechenschaft zu ziehen, die beim letzten Mal dem Votum der Bürger nicht Rechnung getragen haben. Der Wähler weiß schon, was er will, er lässt sich nicht gerne so ohne Weiteres hereinlegen.
D’Wort: War die Abschaffung der Gemeindesektionen aus Ihrer Sicht ein richtiger Schritt? Welche konkreten Auswirkungen hatte er? Wie viele Sektionen sind überhaupt nicht mehr vertreten? Und wo sind Sektionen übervertreten?
Leider gibt es bis dato hierüber weder Statistiken noch zuverlässiges Zahlenmaterial. Ich muss indes betonen, dass die interne Bilanz der Gemeindewahlen zusammen mit den Distriktskommissaren noch nicht abgeschlossen ist. Vielleicht können wir später auf diese Frage zurückkommen. Die einzigen Kommunen, bei denen es bei diesen Wahlen noch Sektionen gab, waren die Fusionsgemeinden Bastendorf, Fouhren, Wilwerwiltz und Kautenbach. In allen anderen Gemeinden wurden die Sektionen abgeschafft. Ich bin der Meinung, dass dies eine gute Sache ist. Wir wollen ja bekanntlich eine größere Repräsentativität und wir möchten gerne weg von der berühmten Logik der Kirchturmpolitik. Eine starke Gemeinde benötigt meines Erachtens eine gewisse kritische Masse von Menschen und ein Territorium, die diese Kommune auf landesplanerischer Ebene bilden und prägen. Ich glaube, dass wir das hiermit erreicht haben. Des Weiteren war auch der administrative Aufwand durch das Wegfallen der Sektionen viel geringer, weil der zweite Wahldurchgang entfiel.
D’Wort: Wie stehen Sie zu der Frage, dass die Mandate dem Gewählten und nicht der Partei gehören – auch in Proporzgemeinden? Durch einen Frontenwechsel in Mondorf kam diese Frage auf …
Die Antwort ist je nachdem ganz einfach oder aber äußerst kompliziert. In Mondorf haben wir das Proporzsystem und die Leute haben sich verhalten, als befänden sie sich in einem Majorzsystem. In Remich sind wir im Majorzsystem und hier haben die Leute sich benommen, als wären sie im Proporzsystem. So einfach ist es. Unabhängig vom System, sind es demnach noch immer die Gewählten persönlich, die bestimmen, wo es lang geht und was geschieht. Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es nicht.
D’Wort: Was halten Sie von der anscheinend immer beliebter werdenden Splitting-Lösung?
Aus der Sicht des Innenministers muss ich sagen, dass der Gesetzgeber die Splitting-Lösung überhaupt nicht kennt. Gemäß Gesetz haben die dem Innenminister eingereichten Zusammensetzungen von Schöffenräten eine legale Gültigkeit von sechs Jahren, nicht mehr und nicht weniger. Das Gesetz kennt auch nicht die Nuance eines Ersten bzw. Zweiten Schöffens. Ich verstehe zwar, dass man sich kommunalpolitisch intern zu arrangieren versucht, nur muss man aufpassen, dass das Ganze nicht lächerlich wirkt und glaubwürdig bleibt. Was schlussendlich immer noch zählt, ist, dass dem Wählerwillen Rechnung getragen wird, und die diesbezüglichen Entscheidungen im Sinne und Geiste des Gemeindegesetzes getroffen werden.
D’Wort: Sind Gemeinden unter 5 000 Einwohner überhaupt noch lebensfähig? Anders gefragt: Wenn Sie Luxemburg am Reißbrett mit einer “neuen Verwaltung” ausstatten könnten, wie viele Gemeinden würden Sie auf der Landkarte einzeichnen?
Die Frage stellt sich etwas anders. Was müssen starke Gemeinden künftig tun, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und den Ansprüchen der Bürger gerecht zu werden? Das ist hier die Frage! Wir müssen also zu allererst definieren, welche Aufgaben wir einer Gemeinde in Zukunft zuordnen: Schule, Kanalisation, Wasserversorgung, Straßennetz usw. Dies setzt natürlich eine gewisse Anzahl von Infrastrukturen sowohl technischer Art als auch personalmäßig voraus, um diese Dienstleistungen sicherstellen zu können. Auf der anderen Seite müssen wir eine bestimmte Anzahl von Einwohnern festsetzen, die gegeben sein muss, damit diese Dienstleistungen überhaupt angeboten werden können. Ob diese kritische Masse nun aus 3 000, 4 500 oder 5 000 Einwohnern bestehen wird, das muss die Erfahrung zeigen. Ich habe in meinem Arbeitspapier, das ich der Kommission für kommunale Angelegenheiten in der Abgeordnetenkammer vorgelegt habe, als “masse critique” eine Einwohnerzahl von 3 000 vorgeschlagen. Ob das die richtige Einschätzung ist, hängt weitgehend davon ab, welche Aufgaben künftig von den Gemeinden, dem Staat oder von Gemeindesyndikaten wahrgenommen werden.
Damit Luxemburg kommunalpolitisch gesehen weiterhin zu verwalten bleibt, benötigen wir zwei Dinge: zum einen starke Gemeinden, zum anderen eine gute regionale Zusammenarbeit und Abstimmung der Projekte. Wenn diese beiden Komponenten gegeben sind, haben wir leistungsfähige Kommunen und darüber hinaus ein leistungsfähiges Land. Dem regionalen Aspekt in der Landesplanung kommt also in Zukunft eine wesentlich größere Bedeutung zu.
Ob nun Fusion oder “Communauté de communes”, was zählt sind leistungsfähige Gemeinden, die im Einvernehmen und mit der Einsicht der Bürger gebildet wurden.
D’Wort: Sind 3 000 Einwohner für den Wechsel vom Majorz- ins Proporzsystem nicht zu wenig, immerhin hatten viele Parteien Probleme, ihre Listen zu füllen?
Diese Frage ist eng mit der vorhergehenden verknüpft bzw. hängt weitgehend von deren Beantwortung ab. Nur wenn man weiß, wie eine Gemeinde des 21. Jahrhunderts aussehen soll, kann man auch die Diskussion führen, ob sie politisch nach dem Proporz- oder Majorzsystem verwaltet werden soll. Ob die Parteien vielerorts Schwierigkeiten hatten, ihre Listen zu komplettieren, ist mir nicht bekannt.
D’Wort: Stimmen Sie der Ansicht zu, dass es sich in einer Majorzgemeinde bisweilen einfacher Politik machen lässt, weil es keine “Opposition” im eigentlichen Sinne gibt – schließlich sind die Parteien nicht direkt involviert?
Im Sinne des Gesetzes gibt es keine Opposition, nur einen Gemeinderat und einen Schöffenrat. Ob es sich in einer Majorzgemeinde einfacher Politik machen lässt oder nicht, dagegen sprechen genügend Beispiele: Küntzig, Mompach, Flaxweiler, Esch/Sauer, Reisdorf. Eines ist ganz klar: Politik wird immer von Menschen gestaltet und jeder schaut vorwiegend nach seinen Interessen, ob wir uns nun in einem Majorz- oder in einem Proporzsystem befinden.
D’Wort: Wie würden Sie die Hauptaufgabe einer modernen Gemeinde definieren? Oder welchen Anspruch sollten die Bürger an ihre Vertreter stellen?
Die Schulpolitik mit dem sich daraus ergebenden umfassenden Dienstleistungsangebot bleibt noch immer eine Priorität für eine moderne Gemeinde. Des Weiteren sollte sich eine moderne Gemeinde dem Kanalnetz, der Straßeninfrastruktur und der Bautenpolitik in einem horizontalen Zusammenschluss mit den Nachbargemeinden verstärkt widmen, so wie ich dies in dem Dokument, das ich in der Abgeordnetenkammer als Diskussionsbasis deponiert habe, festgehalten habe. Bereiche wie Energie, Fernwärmekraft usw. sind fakultative Aufgaben, die von verschiedenen Gemeinden in Angriff genommen werden.
D’Wort: Gibt es etwas Neues in Sachen Inkompatibilitäten in Simmern und Lorentzweiler? Und wo wird es Komplementarwahlen geben?
Das Problem der Inkompatibilität in Simmern ist durch eine ministerielle Bescheinigung gelöst worden. Die betroffene Person kann das Amt annehmen. In Lorentzweiler wird die Problemlösung mit einem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht angestrebt.
Was die Komplementarwahlen betrifft, so muss man ganz klar zwischen Verzicht und Rücktritt unterscheiden. Gemäß Gesetz kann bei einem Verzicht der Innenminister Ernennungen vornehmen bis die Liste erschöpft ist. In Reisdorf ist zwar ein Gewählter zurückgetreten, es muss aber nicht gewählt werden, bis ein Zweiter durch Rücktritt, Krankheit oder Tod ausscheidet, so wie es das Gemeindegesetz vorsieht. In Esch/Sauer ist der Bürgermeister zurückgetreten, bleibt aber Mitglied des Gemeinderats. Hier muss sich lediglich eine neue Mehrheit finden. Komplementarwahlen wird es demnach in unmittelbarer Zukunft keine geben.
D’Wort: Was halten Sie von einem “Député-Maire”? Gute oder schlechte Doppelbelastung?
Ich war selbst im Fall und bleibe mir demnach selber treu, indem ich sage, dass das Doppelamt eine Belastung darstellt und ich es besser fände, wenn die beiden Ämter voneinander getrennt wären. Aus vielen Gründen! Ein Hauptgrund ist aber, wenn wir später starke Gemeinden haben, wir auch hauptberufliche Bürgermeister in diesen Gemeinden nennen können. Dies als Endziel eines Entwicklungsprozesses, der aber noch einige Jahre dauern wird.
Interview: Jean-Paul Schneider
Quelle: « d’Wort » vom 31 Dezember 2005