Internet-Verwaltung: frei, stabil und ohne Ausgrenzung

Die Organisation des Internet steht bei dem bevorstehenden Weltgipfel über die Informations-gesellschaft oben auf der Tagesordnung. In einem Wort-Beitrag bezieht die zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding Stellung

Das Internet ist zweifellos eine der großartigsten Erfindungen der Menschheit im 20. Jahrhundert. Entwickelt von technischen Genies wie Vinton Cerf und stark von der US-Regierung unterstützt, wurde die dezentrale Netzstruktur des Internet in ein wahrhaft weltweites Kommunikationswerkzeug umgeformt, nachdem Tim Berners-Lee, ein damals bei CERN in Genf arbeitender britischer Ingenieur, das World Wide Web erfunden hatte.

Seitdem hat der private Sektor eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung und Einführung von Internettechnologien und -diensten gespielt. Heute ist das Internet zu einer globalen Ressource für Meinungsfreiheit, Handel und interkulturellen Dialog geworden.

Tagesordnung in Tunis: nicht nur Technologie

Die Verwaltung dieser globalen Ressource steht weit oben auf der Tagesordnung des Weltgipfels über die Informationsgesellschaft, der diese Woche in Tunis stattfindet. Es ist ein gutes Vorzeichen, dass dieser Gipfel so viele Staatsoberhäupter, Parlamentarier, nicht staatliche Organisationen und andere Vertreter der Zivilgesellschaft aus der ganzen Welt zusammenführen wird. Auf der Tagesordnung stehen Fragen, die auf den ersten Blick technisch anmuten: Wer sollte bei der Verwaltung des Domänennamensystems des Internet und bei Entscheidungen, die seine zentrale Adressdatei betreffen, das Sagen haben? Doch dahinter verbirgt sich eine breitere, politischere Frage: Was für ein Internet wollen wir? Und insbesondere, was kann die weltweite Gemeinschaft gegen die zunehmenden Eingriffe mehrerer Regierungen an verschiedenen Orten der Erde in die Freiheit des Internet tun – eine Freiheit, die der Eckstein seines Erfolgs gewesen ist?

EU setzt sich für ein freies, stabiles, demokratisches und weltoffenes Internet ein

Die 25 Staaten der Europäischen Union werden in Tunis mit einer Stimme sprechen – mit der Stimme der britischen Präsidentschaft der Union und unterstützt von der Europäischen Kommission. Die EU hat ihren seit einigen Jahren praktisch unveränderten Standpunkt in den letzten Monaten wiederholt vorgetragen. Sie setzt sich für ein freies, stabiles, demokratisches und weltoffenes Internet ein. Ich glaube daran, dass dieser Standpunkt von der großen Mehrheit der Staaten auf Erden geteilt wird, und sicher von unseren Partnern in den USA. Ich habe dieses Jahr zweimal die USA zu politischen Gesprächen besucht und weiß sehr gut, dass es hierbei keine grundlegenden Meinungsunterschiede gibt – im Gegensatz zu dem, was uns manche Kommentatoren glauben lassen möchten.

Die EU ist erstens der Meinung, dass ICANN, die Zentralstelle für die Vergabe von Internet-Namen und -Adressen, sehr gute Arbeit leistet. Europa hatte 1998 die Privatisierung der technischen Verwaltung des weltweiten Domänennamensystems und ihre Übergabe in die Hände der ICANN, einer Vereinigung ohne Erwerbszweck mit Sitz in Kalifornien, stark unterstützt. Wir sollten nicht versuchen, dieses erfolgreiche Beispiel einer Verwaltung in privaten Händen zu ändern. ICANN genießt das Vertrauen der weltweiten Internet-Gemeinschaft.

Zum Zweiten sind wir Europäer der Meinung, dass die Regierungen nicht an der alltäglichen Verwaltung des Netzes beteiligt werden sollten. Die Einbeziehung der Regierungen in diese Arbeiten könnte unnötig schwerfällige Strukturen schaffen und sogar die Stabilität des Internet bedrohen. Daher spricht sich die EU für ein Konzept der Verwaltung des Internet aus, bei dem die ICANN sogar noch weiter von einer Regierungskontrolle befreit wird als bisher. Seit vielen Jahren verstehen wir die US-Regierung so, dass auch sie dieses Ziel teilt. Ein solcher Ansatz würde auch die Privatisierung der alltäglichen Verwaltung des Netzes vervollständigen, indem sie die bisherigen Aufsichtsfunktionen des US-Handelsministeriums über die ICANN in näherer Zukunft aufhebt.

Neues Modell der Zusammenarbeit

Drittens sind wir Europäer der Meinung, dass wir für wichtige politische Fragen in Bezug auf das Funktionieren des Internet – wie Spam, Computerkriminalität und, am allerwichtigsten, die Gewährleistung des Zugangs zu den Freiheiten des Web für alle Bürger – ein neues Modell der Zusammenarbeit brauchen, mit anderen Worten: ein einfaches und transparentes Verfahren für Beratungen zwischen den Regierungen. Ich begrüße es, dass die USA bereits ihr Interesse an einer engeren Zusammenarbeit mit anderen Regierungen zum Ausdruck gebracht haben, um Fragen der öffentlichen Ordnung oder der Souveränität in Bezug auf die länderspezifischen Domänennamen oberster Stufe zu behandeln. Bei diesen Diskussionen sollten wir alle Staaten an einen Tisch bringen und niemanden ausschließen. Nur so können wir weltweit deutlich machen, dass die Meinungsfreiheit im Internet Ausgangspunkt nicht nur für eine demokratische Entwicklung der Gesellschaften, sondern auch für ihren Wohlstand ist.

Für solche Beratungen müssen wir sicher keine neuen Strukturen schaffen oder etwa die Vereinten Nationen zu Hilfe rufen. Stattdessen können wir auf den bestehenden Strukturen aufbauen, insbesondere auf ICANN. Wenn die Regierungen der ganzen Welt sich wirklich für ein freies, stabiles und offenes Internet engagieren, dann könnte ich mir persönlich vorstellen, dass der Governmental Advisory Council von ICANN ein geeignetes Gremium ist, das dabei helfen kann, Teile des von uns Europäern vorgeschlagenen neuen Modells der Zusammenarbeit in die Praxis umzusetzen.

Digitale Teilung der Welt überwinden

Ich hoffe, dass Tunis uns in der langen Entwicklung des Internet hin zur Freiheit von Regierungskontrolle und zu einer zunehmenden Internationalisierung seiner Verwaltungsstrukturen wesentlich voranbringen wird. Wir sind beinahe am Ziel. Wir sind uns bereits einig über zwei Drittel des Pakets, und ich rufe alle Teilnehmer auf, dafür zu sorgen, dass diese Einigkeit nicht in Frage gestellt wird. Eine politische Vereinbarung in Tunis ist erreichbar und wäre ein wichtiges Zeichen dafür, dass die demokratischen Staaten sich ehrlich darum bemühen, die Besorgnis erregende digitale Teilung der Welt zu überwinden und eine wahrhaft offene, niemanden ausgrenzende globale Informationsgesellschaft zu schaffen.

Viviane Reding ist EU-Kommissarin für Informationsgesellschaft und Medien

Quelle: Wort, 14. November 2005