Die europäische Schicksalsfrage

Den CSV-Fraktiounssekretär Frank Engel zum Referendum vum 10.Juli 2005
Die europäische Schicksalsfrage

Wenn die Luxemburger am 10. Juli zu den Urnen gehen, um den europäischen Verfassungsvertrag anzunehmen oder abzulehnen, steht für unser Land unendlich mehr auf dem Spiel, als die Ratifizierung des vorerst letzten der europäischen Verträge. Für Luxemburg geht es um seine Stellung in Europa. Für Europa geht es um das Weiterschreiten eines Integrationsprozesses, der unserem Kontinent 60 Jahre Frieden und Wohlstand beschert hat. Denn wenn die Luxemburger Nein sagen, wird es keine Verfassung geben. Wenn der dritte Gründerstaat in einer Reihe sich gegen das Vertragswerk ausspricht, kommen die Turbinen der europäischen Einigung zum Stehen.

Am 10. Juli hat Luxemburg die politische Zukunft Europas in der Hand. Es mag pathetisch klingen, und dennoch: durch Umstände, die unser Land nicht kontrolliert hat, ist es einer knappen Viertelmillion Luxemburger Wähler auferlegt, das entscheidende Wort über die weitere Entwicklung der Europäischen Union zu sprechen. Noch nie war unsere europäische Verantwortung so groß. Noch nie waren die Augen der Welt in jenem Masse auf Luxemburg gerichtet, wie es am 10. Juli der Fall sein wird. Die Verfassungsfrage in Luxemburg wird an diesem Tag zur Schicksalsfrage für einen ganzen Kontinent.

Luxemburg, vom ärmsten der sechs Gründerstaaten zum heute reichsten Mitglied der 25er-Union aufgestiegen und ohne Zweifel der größte Nutznießer des europäischen Einigungsprozesses, leidet in diesen Tagen unter dem gleichen Europaverdruss, wie seine Nachbarstaaten auch. Eine Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrages, wie sie in Frankreich und den Niederlanden bereits stattgefunden hat, kann auch bei uns nicht mehr völlig ausgeschlossen werden. Dies käme einer rückwirkenden Absage des Volkes an über fünf Jahrzehnte europäischer Regierungspolitik gleich. An eine Politik, die alle ernst zu nehmenden Parteien und ihre parlamentarische Fraktionen – vom Wähler immer wieder bestätigt – seit dem Beginn der fünfziger Jahre unterstützt haben.

Demnach riskiert sich zu rächen, dass während Jahren und Jahrzehnten quer über den Kontinent jede politische Entwicklung, die nicht positiv zu vermitteln war, als das Werk Brüsseler Bürokraten bezeichnet werden durfte – ohne Widerspruch, oder fast. Zwar war gerade in Luxemburg dieses Phänomen nie besonders ausgeprägt, doch wirken auch hierzulande die Schlagzeilen ausländischer Medien nach. Die ständige Verteufelung der europäischen Institutionen und Organe als gesichts- und legitimationslose Monster, die nichts anderes im Sinn haben, als die Europäer unter überflüssigen Normen zu begraben, scheint Früchte zu tragen. Nie war der Graben zwischen “Brüssel” und den Bürgern Europas tiefer.

Doch Brüssel, das sind wir. Das sind Luxemburger, Iren, Italiener, Franzosen, Deutsche, Dänen, Slowenen, Litauer und Esten. “Brüssel” gibt es nicht. Wenn jeder Mitgliedstaat seine Beamten aus der europäischen Hauptstadt abzöge, bliebe dort niemand übrig. Es existieren keine europäischen Bürokraten, auch gerne als “Eurokraten” beschimpft, die ein autonomes und endogenes Existenzpotenzial hätten. Die Beamten Europas – von denen es, alles in allem, weniger gibt, als öffentlich Bedienstete in Luxemburg – führen aus, was die europäische Politik ihnen vorgibt. Leider zuviel im Kleinen, leider zu wenig im Grossen.

Die negativen Voten der Franzosen und der Niederländer haben bewiesen, dass mit den einfachen und praktischen – vor allem jedoch falschen und unehrlichen – Schuldzuweisungen Schluss sein muss. Europa, die Europäische Union, kann nicht allein für alles Negative zuständig sein, während die nationalen Regierungen und Parlamente die positiven Entwicklungen auf ihren Aktivposten verbuchen. Wie sollen die Europäer für Europa sein, wenn Europa nur “Brüssel” sein darf, anonyme Beamtendiktatur, Dunkelkammer der Überregulierung, hässliche Fratze eines auferstehenden Wegelagererkapitalismus?

Natürlich ist die Europäische Union nicht jenes Monster, als das sie heute die Gegner der europäischen Verfassung bezeichnen, und für das sie auch viele Europäer, im Stillen und persönlich Empfundenen, halten. Unglücklicherweise aber finden sich für die Europäische Union, wie wir sie kennen, in diesen Tagen mehr Möchtegerntotengräber, als Überlebenshelfer. Das muss sich ändern. Und die Luxemburger können mit ihrem Votum für diese Änderung der Perzeption Europas den Ausgangspunkt liefern.

Die Europäische Union braucht nicht nur eine Verfassung, die ihr eine formale Aufteilung der Zuständigkeiten bringt. Sie braucht vor allem eine redliche Aufteilung der politischen Ambitionen zwischen den Nationalstaaten und der europäischen Entscheidungsebene. Solange einige Staaten nicht einsehen wollen, dass der positive, vorwärts gewandte, zukunftsorientierte politische Anspruch der Nationen mit Europa geteilt werden muss, damit die Union Zustimmung und Anerkennung bei ihren Bürgern findet, wird es keinen europäischen Stimmungsaufschwung geben. Gerade hier können die Luxemburger ein Zeichen setzen. Einen kraftvollen Akzent für die Anerkennung des europäisch Geleisteten, und für die Verwirklichung des eigentlichen europäischen Traums.

Die Luxemburger wissen, dass sie Europa unendlich viel verdanken. Davon braucht man sie nicht mehr zu überzeugen. Wovon die Wähler des 10. Juli überzeugt werden müssen, ist die Stärke des Signals für ganz Europa, das von einem positiven Ergebnis ausgehen wird. Sollten die Luxemburger Nein sagen, degradieren sie lediglich ihr Land zu dem, was es in den nackten Zahlen und Fakten ohnehin ist: der zweitkleinste Mitgliedstaat der Union, nicht viel wichtiger als Malta, gelegen an der Peripherie einer Union, deren Gravitationszentrum sich in die Mitte unseres Kontinents verlagert.

Stimmen die Luxemburger aber mit Ja, bricht unsere Viertelmillion Wähler den Trend der Referenden, dann gibt der Gründerstaat Luxemburg Europa wieder einmal den entscheidenden Impuls, von dem die weitere Entwicklung der Union bestimmt werden kann. Geringer sollte der europäische Anspruch der Luxemburger nicht sein.

Frank Engel