Juncker: Europa steckt in einer tiefen Krise

Luxemburgs Premierminister ist enttäuscht, will aber weiter für eine solidarische EU kämpfen: “Meine Entschlossenheit, mich denen in den Weg zu stellen, die aus der Solidarität ausscheren wollen, wurde gestärkt”, so Premier Juncker im “Wort”-Interview
Es waren anstrengende Tage in Brüssel. Doch die Mühe hat sich vor allem in der Haushaltsfrage nicht gelohnt. Die Blockadehaltung der Briten führte zum Scheitern der Verhandlungen über die künftigen Finanzen der EU. Das bedauert der noch amtierende Ratspräsident Jean-Claude Juncker. Seine Europa-Begeisterung hat einen Knacks erlitten. Aber Juncker will weiter für eine solidarische Union kämpfen.

D’Wort: Herr Juncker, der Streit um die EU-Finanzen konnte beim Brüsseler Gipfel nicht beigelegt werden. Es scheiterte vor allem an den Briten. Wie enttäuscht sind Sie?

Jean-Claude Juncker: Ich bin sehr enttäuscht und bedauere, dass wir nach 14 Stunden intensiver Beratungen nicht abschließen konnten. Europa steckt in einer tiefen Krise, das kann man nicht schönreden. Meine Europa-Begeisterung hat einen Knacks bekommen. Meine Entschlossenheit, mich denen konsequent in den Weg zu stellen, die aus der europäischen Solidarität ausscheren wollen, wurde allerdings gestärkt.

D’Wort: Worauf führen Sie die sture Haltung der Briten zurück?

Jean-Claude Juncker: Ich habe alles versucht, um Premier Blair entgegenzukommen. Doch die britische Seite war einfach nicht bereit, über den eigenen Schatten zu springen. Dafür gibt es ganz klar innenpolitische Gründe. Hinzu kommt eine aufgescheuchte antieuropäische Presselandschaft in Großbritannien. Persönlich habe ich den Eindruck, als hätten es die Briten von Anfang an darauf angelegt, in letzter Minute eine Konsenslösung zu verhindern.

D’Wort: Unmittelbar vor dem Aus kam es zu einer gemeinsamen Initiative der zehn neuen EU-Länder. Das hat Sie peinlich berührt, wie Sie am Freitagabend vor der internationalen Presse erklärten.

Jean-Claude Juncker: Ja, das hat mich wirklich beeindruckt. Es war ein dramatischer Appell. Zehn neue, arme Länder erklärten zusammen mit Portugal, sie würden auf Finanzmittel verzichten, die ihnen in Aussicht gestellt worden waren. Sie waren bereit, den Reichen Geld zu überlassen, um eine Lösung zu finden. Das hat mich tief berührt. Das war ein starkes Signal.

D’Wort: Der luxemburgische Ratsvorsitz endet mit einem Gipfel, der die EU noch tiefer in die Krise stürzte. Das ist nicht gerade ein Abschluss nach Maß. Wie sehen Sie die Bilanz der Présidence?

Jean-Claude Juncker: Ich bin vor allem froh darüber, dass es unter unserer Ratspräsidentschaft gelungen ist, den Stabilitätspakt neu zu beleben. Hinzu kommt die Relance der Lissabon-Strategie. Hier konnten wir uns auf integrierte Leitlinien einigen, die nun umgesetzt werden müssen. Auf die Bilanzierung der Présidence werde ich zu einem späteren Zeitpunkt gerne im Detail zurückkommen.

D’Wort: Noch ein Wort zu den Finanzperspektiven 2007-2013. Glauben Sie an eine Lösung unter britischem Ratsvorsitz?

Jean-Claude Juncker: Wenn es ein Lösungsmodell geben sollte, kann dieses sich nur in Millimetern von unserem letzten Vorschlag unterscheiden.

D’Wort: In Brüssel wurde auch eine Denkpause für die Ratifizierung der EU-Verfassung beschlossen. Was bedeutet das fürs Referendum vom 10. Juli?

Jean-Claude Juncker: Da habe ich keine vorgefasste Meinung. Diese Frage müssen die politischen Parteien und das Parlament beantworten. Wissen Sie, ich halte mich auch deshalb zurück, weil ich mir nicht den Vorwurf gefallen lassen will, mir ginge es nur darum, meine eigene politische Haut zu retten. Darum geht es wirklich nicht.

Interview: Marc Glesener
Quelle: d’Wort, 20. Juni 2005