Alle Augen sind derzeit auf unser Land gerichtet. Vom Ausgang des Referendums hängt die weitere Entwicklung der Europäischen Union und die künftige Rolle Luxemburgs ab
Claude Wolf: Herr Staatsminister, Sie haben nach dem niederländischen Nein enttäuscht festgestellt, Europa bringe uns nicht mehr zum Träumen.
Europa hat uns Frieden gebracht. 60 Jahre Frieden: das hat es in der europäischen Geschichte noch nie gegeben. Aus dem Kontinent der Kriege haben unsere Vorgänger den Kontinent des Friedens gemacht. Weil uns der Frieden heute selbstverständlich vorkommt, träumen wir – anders als die Vorgängergenerationen – nicht mehr von ihm.
Claude Wolf: Ernüchternd. Aber wie kann die Politik dem gegensteuern?
Ich stelle ernüchternd fest, dass das Thema Krieg und /oder Frieden die Menschen nicht mehr bewegt, obwohl vor genau 10 Jahren im Balkan – mitten in Europa – geschossen, vergewaltigt, gefoltert und gestorben wurde. Krieg in Europa bleibt möglich, aber wir wollen die Gefahr nicht sehen. Das europäische Integrationswerk mit seinen täglich wachsenden transnationalen Intersolidaritäten, die Krieg de facto unmöglich machen, muss deshalb weitergeführt werden. Weil die Friedensdiskussion allein die Menschen nicht mehr erreicht, müssen wir anders argumentieren und die Vorzüge der EU für unsere Zeit und unsere Lebensverhältnisse beleuchten. Mit oder ohne EU, mit oder ohne Verfassungsvertrag: die Globalisierung ist eine Tatsache. Auf uns allein gestellt wären wir ihr ausgeliefert. Im europäischen Verbund aber und als Teil des Euro-Raumes können wir uns gegen ihre negativen Auswirkungen wehren. Der Euro schützt uns.
Claude Wolf: Können Sie das näher erklären?
Wir müssen uns Luxemburg ohne den Euro vorstellen, mit dem belgischen Franken als nationale Währung. Was wäre passiert? Unter dem Eindruck des Irak-Krieges, der anhaltenden Folgen des Kosovo-Krieges, der russischen, mexikanischen und argentinischen Finanzkrise, der Dollarschwäche, der Globalisierung und des Vorpreschens asiatischer Wirtschaftsleistungen wäre es zu einem brutalen weil unlauteren Wettbewerbskampf in Europa gekommen. Die europäischen Länder hätten – weil sie ihre Wettbewerbsfähigkeit hätten steigern wollen – auf- und abgewertet, auf unsere Kosten. Beispiel: die Südeuropäer hätten zweifelsohne abgewertet, somit ihre Produkte verbilligt und uns Luxemburger von den Absatzmärkten verdrängt. Der Euro lässt keine derartigen wettbewerbsbedingten Abwertungen, die uns geschadet hätten, zu. Er lässt auch keine Aufwertung zu. Er sorgt für währungspolitische Stabilität. Er gibt unserer Wirtschaft Planungs- und Absatzsicherheit. Der Euro befreit uns aus der babylonischen Gefangenschaft zu der uns die Währungsassoziation mit Belgien verdammte: die belgische Regierung hätte ohne den Euro mit dem belgischen Franken das gemacht, was gut gewesen wäre für Belgien. Wir hätten das Nachsehen gehabt weil Belgien seine Interessen, nicht unsere bevorzugt hätte. So wie 1982: wir wurden damals um 8,5 Prozent abgewertet, zu unserem Nachteil und ohne dass unsere Meinung gefragt wurde. Die Zeiten sind vorbei, wir sind heute gleichberechtigter Miteigentümer der stärksten Währung der Welt und der luxemburgische Finanzminister ist Präsident der Eurozone. Europa und der Euro haben uns ein Mehr an Souveränität und ein Weniger an Abhängigkeit gebracht. Ohne den Euro wäre unsere Wirtschaft schwächer und unsere Arbeitslosigkeit höher. Hinzu kommt, dass wir währungsstabil, also zu gleichen Bedingungen wie Deutsche, Franzosen und Niederländer in die Beitrittsländer exportieren können.
Claude Wolf: Dennoch sind die 10 neuen EU-Mitglieder für die Gemeinschaft eine schwere Belastung. Das könnte im Referendum zum Ausdruck kommen.
Der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder hat uns wirtschaftlich genutzt. Unser Anteil am Mittel- und Osteuropahandel ist dreimal schneller gestiegen als unser Anteil am Welthandel. Wir exportieren heute mehr nach Mittel- und Osteuropa als nach Amerika. Fazit: ohne Erweiterung wären wir wirtschaftlich schwächer. Aber ich weiß: die Erweiterung ist unpopulär. Sie kam zu schnell und macht Angst. Ich verstehe diese Sorgen. Aber ich sage: wir hatten keine andere Wahl. In und um Europa sind seit 1989 fast dreißig neue Staaten entstanden. Nicht, dass wir das gewollt hätten, aber weil die Geschichte es so bestimmt hat. Die Menschen wollten frei sein, sich von sowjetischer Unterdrückung nicht länger drangsalieren lassen. Wenn wir den acht mittelund osteuropäischen Staaten, die am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten sind, die Eingangstür zu Europa vor der Nase zugeschlagen hätten, was wäre dann passiert? Die Staaten hätten ihre Grenz- und Minderheitenprobleme nicht bewältigen können: das konnten sie nur, weil es die europäische Perspektive gab. Hätte es diese europäische Perspektive nicht gegeben, wären die neuen Demokratien auf Dauer zur Armut verdammt gewesen, hätten sich die Mittel- und Osteuropäer auf den Weg nach Westen gemacht, unsere Arbeitsmärkte durcheinander gewirbelt und ihre Instabilität exportiert. So aber haben wir den Kontinent in geordnete Bahnen eingewiesen. Die Angst vor der Erweiterung muss man verstehen, die Nicht-Erweiterung aber hätte für uns extrem negative Folgen gehabt.
Claude Wolf: Die Wähler in Frankreich und den Niederlanden sehen das nicht so.
Franzosen und Niederländer haben die Gefahren der Nicht-Erweiterung ignoriert. Die Erweiterungsverhandlungen führten beispielsweise zu dem Ergebnis, dass die maroden Atomkraftanlagen Osteuropas abgeschaltet werden müssen. Die Erweiterung verhindert ein zweites Tschernobyl. Doch die innenpolitischen Sorgen waren in Frankreich und den Niederlanden prioritär: hohe Arbeitslosigkeit in Frankreich, Sozialabbau und innerstaatliche Spannungen in den Niederlanden. Hinzu kommen widersprüchliche Erwartungen an Europa: ein Teil der Nein-Sager in Frankreich wollte weniger Europa und mehr Frankreich auf Kosten der Nachbarn, ein anderer Teil mehr Europa für Frankreich und somit Nachteile für die Nachbarn. Herr Fabius beispielsweise möchte die Mehrwertsteuersätze in Europa durch Mehrheitsbeschluss der Regierungen festlegen: wir aber haben bei der Vertragsverhandlung auf Einstimmigkeit und somit Eigenständigkeit gepocht. Wir wollen unsere Mehrwertsteuersätze selbst bestimmen und den niedrigsten Mehrwertsteuersatz in Europa behalten. Herr Fabius möchte uns höhere Sätze durch Abschaffung unseres Vetos aufzwingen. Der Verfassungsvertrag hindert ihn daran, die von ihm gewünschte “Nachbesserung” des Vertrages würde uns zum Nachteil gereichen. Mir bereitet es Sorge, dass das auf den eigenen Vorteil ausgerichtete Nein vieler Franzosen bei uns auf Zustimmung stößt.
Claude Wolf: Das müssen Sie jetzt aber näher erklären.
Der eine Teil der französischen Nein-Sager möchte, dass der französische Staat seine Industrie maximal subventionieren kann anstatt sich an die europäischen Wettbewerbsvorgaben zu halten, die kleinere finanzschwächere Staaten wie Luxemburg gegen die Dominanz der finanzstärkeren großen europäischen Staaten schützen. Der andere Teil möchte Betriebssteuer, Mehrwertssteuer ja sogar Einkommenssteuer mit Mehrheit, also ohne Zustimmung Luxemburgs entscheiden. Wir aber möchten Herr der eigenen Steuer bleiben, was nicht ausschließt, dass man zu einer vernünftigen Harmonisierung bereit wäre. Herr Fabius möchte, dass europäische Verträge durch Mehrheitsbeschluss abgeändert werden können: wir aber wollen uns nichts diktieren lassen, wir wollen im Geist der europäischen Solidarität mitbestimmen. Wären die Forderungen der französischen Nein-Sager in den Verfassungsvertrag aufgenommen worden, hätten wir das Nachsehen gehabt.
Claude Wolf: Die Antworten der Franzosen und Holländer auf die Frage nach der europäischen Verfassung haben enttäuscht. Wie groß ist die Gefahr, dass Luxemburg, das nicht gewohnt ist mit Referenden umzugehen, die falsche Frage beantwortet?
Ich habe mich nie der Illusion hingegeben, die Zustimmung der Luxemburger sei einfach. Wer täglich mit den Menschen redet, der weiß wie verunsichert auch unsere Landsleute sind. Deshalb müssen wir nicht einfach so mit der Zustimmung unserer Mitbürger rechnen, sondern müssen leidenschaftlich dafür kämpfen, müssen immer wieder beweisen, dass der vorliegende Vertrag besser als der bisherige Vertrag von Nizza ist.
Claude Wolf: Wieso?
Der Nizzaer Vertrag hat nur ein Minimum an Fragen beantwortet, der Neue ist weitaus straffer, wir schneiden uns jedoch die Luft nicht ab.
Claude Wolf: Sie verteidigen einen Vertrag, von dem Sie seinerzeit sagten, er sei in der dunkelsten Dunkelkammer ausgehandelt worden.
Meine Kritik galt dem Ergebnis der Konventsarbeit in puncto institutionelle Reformen, nicht aber dem Ergebnis der Regierungskonferenz das Licht ins Dunkel gebracht hat. Der Verfassungsvertrag enthält Kompromisse die gut für Europa und gut für Luxemburg sind.
Claude Wolf: Das ist ein völlig neuer Gesichtspunkt.
Im Gegensatz zu den Franzosen und Niederländern muss Luxemburg am 10. Juli eine Entscheidung treffen, die weit über seine nationalen Interessen hinausgeht. Unsere Abstimmung wird darüber entscheiden, ob und wie es in Europa weitergeht. Wenn die Luxemburger Nein sagen, dann bedeutet das das Ende des europäischen Traumes. Das ist schlecht für das Bild Europas in der Welt und noch viel schlechter für unseren Einfluss in Europa, den wir uns nur wahren können, wenn wir in dieser ganz entscheidenden Phase des europäischen Werdens die richtige Entscheidung treffen und beweisen, dass wir noch an Europa glauben. Wir müssen mit unserem Ja beweisen, dass wir aus der europäischen Geschichte gelernt haben. Unser Ja wird unsere Position in Europa unendlich stärken und festigen. Erstmals wird unser kleines Land europäische Geschichte schreiben.
Unseren Einfluss können wir nur wahren, wenn wir jetzt beweisen, dass wir noch an Europa glauben
Claude Wolf: Das klingt alles sehr abstrakt.
Ist aber doch sehr konkret. Vom Ausgang unseres nationalen Referendums hängt unwahrscheinlich viel ab. Von den sechs Gründerstaaten der damaligen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft haben drei jetzt schon Ja gesagt, das sind Italien, Belgien und Deutschland. Frankreich und die Niederlande haben Nein gesagt. Unser Votum ist demnach ausschlaggebend für Kerneuropa. Von unserer Stimme hängt ab ob wir europäische Geschichte mitschreiben oder die Chance verpassen, jemals wieder bei einem so wichtigen Moment dabei sein zu können. Wir werden konkret befragt zu der Verfassung. Aus den genannten Gründen bin ich ein leidenschaftlicher Befürworter dieses Verfassungsvertrages.
Claude Wolf: Dem Sie so viele positive Aspekte abgewinnen?
Der Verfassungsvertrag ist nicht perfekt, er hat Mängel. Aber wir müssen die Chance nutzen, die uns dieser Vertrag bietet, um unsere eigenen Interessen schützen und Europa weiterbringen zu können.
Claude Wolf: Die Gegner der Verfassung sagen, dass ihnen das gegenwärtige Europa reicht, dass sie Bestehendes festigen wollen, statt einen weiteren Auf- und Ausbau zu fördern.
Der vorliegende Verfassungsvertrag erlaubt eine Entwicklung in beide Richtungen. Wer mehr Europa will, dem gibt der Verfassungsvertrag den nötigen Handlungsraum. Wer Europa in seinen Aufgabengebieten beschränken möchte, kann sich auch auf diese Verfassung berufen. Sie legt nämlich genau fest wofür Europa und wofür die einzelnen Länder zuständig sind. Ich bin dagegen, dass Europa entscheidet wie hoch unsere Pensionen sind. Ich bin dagegen, dass Europa entscheidet wie unser Kündigungsschutz auszusehen hat. Ich bin dagegen, dass Europa entscheidet wie unser Schulsystem zu organisieren ist. Das alles stellt der Verfassungsvertrag klar, indem er in diesen und in anderen Bereichen den Mitgliedsstaaten die Endentscheidung überlässt. Gott sei Dank! Europa soll nur regeln wo europäische Regeln zielorientierter sind als nationalstaatliche Regeln.
Claude Wolf: Und das wäre?
Zum Beispiel in der Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik. Hier entlastet die europäische Politik die nationalen vor allem die kleinen Staaten, die sich nicht alleine gegen den Druck von außen wehren können. In Fragen der Steuerpolitik, der Gesundheit, der Renten, der Kultur, der Erziehung, der sozialen Absicherung hingegen, darf es nicht zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen kommen.
Claude Wolf: Sie können ja wohl nicht anders argumentieren, denn Sie befürworten am kommenden 10. Juli als Bürger ein Dokument, das Sie als Premierminister schon vor mehr als einem halben Jahr unterzeichnet haben.
Ich habe mir auch damals bei der Unterzeichnung die Frage gestellt, ob meine europapolitische Überzeugung und meine Sorge um die nationalpolitischen Belange meines Landes übereinstimmen. Ich bin überzeugt, dass der vorgezeichnete Weg für Luxemburg gut ist. Jeder Luxemburger, der am 10. Juli in der Wahlkabine steht, muss sich genau die gleiche Frage stellen. Jeder muss sich Rechenschaft ablegen über die Folger seines Votums. Jeder muss wissen, dass unser Einfluss in Europa nur groß bleibt, wenn wir uns am 10. Juli ausdrücklich zu Europa bekennen.
Die Menschen schauen nach Luxemburg und bewundern das Geschick, mit dem wir es fertig brachten uns zu entfalten
Claude Wolf: Wir bleiben dennoch ein kleines Land.
Europa hat andere Spielregeln. Ich erlebe Europa seit fast 6 Monaten hautnah und sehe wie stark angeschlagen die französischen und die niederländischen Positionen bereits jetzt sind. Der Hinweis, dass Frankreich oder Holland eine Entscheidung nicht mittragen wollen beeindruckt heute weniger als vor drei Wochen.
Claude Wolf: Aber verstehen Sie die Ängste der Luxemburger, verstehen Sie das Signal, das von den Zweiflern ausgeht?
Es gibt die Angst vor dem Verlust der Identität. Je größer Europa wird, umso kleiner wird Luxemburg. Die Menschen wollen nicht in der Masse verschwinden. Das befürchteten sie schon bei der ersten, der zweiten und der dritten Erweiterung. Dabei hatten wir noch nie so viel Einfluss in Europa wie gerade jetzt. Die Menschen schauen nach Luxemburg und bewundern das Geschick, mit dem die Luxemburger es fertig brachten sich selbst zu entfalten, ohne ihre Zugehörigkeit zu Europa in Frage zu stellen. Luxemburg ist für viele andere Völker ein Beispiel – worauf wir stolz sein dürfen. Die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität, die Angst von Europa überrollt zu werden, die kann ich nicht teilen. Ich weiß wie viel Einfluss wir haben, wie stark unser Wort ins Gewicht fällt, selbst wenn wir das kleinste Mitgliedsland sind. In die europäischen Entscheidungsprozesse fließen viele luxemburgische Elemente ein, die wir nicht behalten wenn wir uns beim Referendum in das falsche Lager einreihen. Der Gründungsstaat zu sein, der nach zwei Weigerungen Ja zu Europa sagt, gibt uns eine große Kraft und deshalb wird es am 10. Juli nicht nur um den europäischen Vertrag gehen, sondern um die Position Luxemburgs in Europa und die Bestätigung des unerlässlichen Integrationsprozesses.
Revue vom 15. Juni 2005