EU-Ratspräsident und Premierminister Jean-Claude Juncker im “Wort”-Gespräch. Premierminister Jean-Claude Juncker: “Es werden schwierige Tage in Brüssel. Aber ich bin heiter und gelassen.”
Nach dem Durchbruch beim Stabilitätspakt ist eine Neuausrichtung der Lissabon-Strategie für mehr Wettbewerbsfähigkeit Europas mit starken nationalen Instrumenten für die Umsetzung der Agenda erste Priorität des Europäischen Rates unter Luxemburger Présidence heute und morgen in Brüssel. Ratspräsident und Premier Jean- Claude Juncker sieht dabei im Interview die soziale Dimension Europas gleichwertig mit der wirtschaftlichen.
D’Wort: Herr Premierminister, heute beginnt der Frühjahrsgipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel unter Luxemburger Presidence. Wie sehen Ihre Prioritäten für den Gipfel aus?
Jean-Claude Juncker: Wir wollen eine teilweise Neuausrichtung und gelungene Zwischenbilanz der Lissabon-Agenda und die Verabschiedung des überarbeiteten Stabilitätspaktes. Beide Dossiers müssen auf dem Gipfel abgeschlossen werden. Sonst wird es extrem schwierig, den Finanzrahmen 2007/2013 – die dritte Priorität unserer Présidence – unter Dach und Fach zu kriegen. Die öffentliche Wahrnehmung dreht nur um diese drei Punkte. Leider fallen dabei unsere Erfolge bei der Erweiterung des europäischen Rechtsrahmens unter den Tisch.
D’Wort: Die im Jahr 2000 angelaufene Lissabon-Agenda soll Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt machen. Die Zwischenbilanz des Kok-Berichts war sehr negativ. Wie sieht Ihre Halbzeitbilanz aus?
Jean-Claude Juncker: Wir müssen nüchtern feststellen, dass wir auf unserem Weg hin zu diesem wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum seit 2000 nicht mit der gebotenen Geschwindigkeit vorangekommen sind. Die Resultate dieser Anstrengung lassen stark zu wünschen übrig. Die Zwischenbilanz ist enttäuschend.
D’Wort: Warum ist das denn so?
Jean-Claude Juncker: Wir haben uns zu stark auf europäische Ziele konzentriert. Es gibt keine Arbeitsinstrumente für die nationale Umsetzung. Wir schlagen nun hierfür nationale Reformprogramme vor. Die Sozialpartner, Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten müssen spüren, dass sie für die Lissabon-Umsetzung zuständig sind.
D’Wort: Welche Prioritäten setzen Sie denn als Ratsvorsitzender?
Jean-Claude Juncker: Wir müssen uns auf unsere Schwächen konzentrieren. Europa hat ein größeres Wachstumspotenzial als das derzeitige Wachstum. Aber Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit sind weder Selbstzwecke noch Ziele an sich, sondern Instrumente, um den sozialen Zusammenhalt zu festigen.
D’Wort: Sehen Sie hier auch Reformbedarf?
Jean-Claude Juncker: Wir brauchen Strukturreformen, damit das Europäische Sozialmodell auch für zukünftige Generationen zugänglich bleibt. Die Politik muss sich verstärkt mit der Zukunft beschäftigen. Mit den Bedürfnissen, Notwendigkeiten, Erwartungen, Hoffnungen und Träumen der Menschen. Zurzeit tut sie dies herzlich wenig.
D’Wort: Wird gerade diese soziale Dimension der Lissabon-Agenda nicht zu oft vergessen?
Jean-Claude Juncker: Wir lehnen die Verengung von Lissabon auf Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum ab. Wir wollen das Europäische Sozialmodell in seiner Gesamtheit erhalten. Dies beinhaltet auch umweltpolitische Ziele. Es geht also nicht nur um Wachstumssteigerung.
D’Wort: Ist diese Verbindung von wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und bildungspolitischen Zielen nicht eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, eine Quadratur des Kreises?
Jean-Claude Juncker: Während dieser Présidence beginnen wir die Quadratur des Kreises als normale Form der Geometrie zu erleben. Dies gilt sowohl für die Zusammenbringung der Positionen beim Stabilitätspakt als auch für Lissabon. Wir bewegen uns dauernd in viereckigen Kreisen.
D’Wort: Ist dies auch ein dauernder Kampf für das soziale Europa?
Jean-Claude Juncker: Die soziale Komponente ist leider noch keine Selbstverständlichkeit in Europa. Für mich ist die soziale Dimension aber gleichrangig mit der wirtschaftlichen. Ich habe dies auch bei langen Gesprächen mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund zum Ausdruck gebracht.
D’Wort:Wie sehen Sie die Protestaktionen der Gewerkschaften im Vorfeld des Gipfels und in Zusammenhang mit der Bolkestein-Richtlinie?
Jean-Claude Juncker: Ich befinde mich prinzipiell und bei der Bolkestein-Debatte in größter Harmonie mit der europäischen Gewerkschaftsbewegung. Nicht jeder Regierungschef in Europa kann dies von sich behaupten.
D’Wort: Glauben Sie, dass Sie Ihre Amtskollegen überzeugen können?
Jean-Claude Juncker: Deshalb haben wir ja einen Gipfel in Brüssel.
D’Wort: Am Freitag fand in Paris ein Vierergipfel zwischen Russland, Deutschland, Frankreich und Spanien statt? Die Beziehungen zu den USA wurden mit dem Bush-Besuch neu belebt. Ist Russland die nächste außenpolitische Priorität?
Jean-Claude Juncker: Am 10. Mai treffe ich mich in Moskau mit Präsident Putin zum Russland-EU-Gipfel. Unsere Beziehungen sind zurzeit nicht optimal.
D’Wort: Wie können sie verbessert werden?
Jean-Claude Juncker: Russland muss zur Kenntnis nehmen, dass es etwa bei den Menschenrechten nachbessern muss. Die Europäer müssen sehen, dass Russland keine alte Demokratie ist, sondern erst seit 15 Jahren demokratisch funktioniert. Ich denke, dass wir in Moskau zu gemeinsamen Schlussfolgerungen kommen werden.
D’Wort: Können Sie den Pariser Quadripartite-Begriff “Schicksalsgemeinschaft” unterschreiben?
Jean-Claude Juncker: Wir können keine europäische Architektur ohne Russland entwerfen. Russland kann hingegen nicht m selbstbezogene Isolation flüchten. Ich kann die “Schicksalsgemeinschaft” unterschreiben, weil sie besteht!
D’Wort: Was halten Sie eigentlich von solchen internationalen Treffen einzelner Staaten?
Jean-Claude Juncker: Ich halte solche Treffen für sinnvoll. Allerdings müssen sie europäisch und nicht trinational sein.
D’Wort: Was halten Sie von den Vorstößen der Ukraine hin zur EU?
Jean-Claude Juncker: Die Ukraine braucht und hat eine euro-atlantische Perspektive. Allerdings müssen wir die kommenden Jahre abwarten, ob diese für einen EU-Beitritt ausreicht.
D’Wort: Wie sehen Sie den syrischen Truppenabzug aus dem Libanon und die Lage im Nahen Osten?
Jean-Claude Juncker: Wir fordern mit den USA einen Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon. Nach Gesprächen der Luxemburger Présidence mit Palästinensern und Israeli in Madrid haben wir nun einen ersten gemeinsamen Brief. Das war ein bewegender Moment.
D’Wort: Ein weiterer Punkt des Gipfels ist das Thema Nachhaltigkeit. Welche Weichen wollen Sie hier stellen?
Jean-Claude Juncker: Wir schlagen einen Katalog von Handlungsprinzipien zur Nachhaltigkeit vor. Der Europäische Rat hat dies bereits prinzipiell 2001 in Göteborg beschlossen. Wir setzen es nun um.
D’Wort: Beim Stabilitätspakt ist am Wochenende der Durchbruch gelungen. Wird der Pakt nun auch den Gipfel der Chefs passieren?
Jean-Claude Juncker: Ich hoffe, dass wir die verschiedenen Grundausrichtungen auch hier zusammenbringen können.
D’Wort: Wird die Stabilität beim Pakt, der ja eigentlich ein Instrument für Währungsstabilität und Wirtschaftswachstum ist, nicht überbewertet?
Jean-Claude Juncker: Es ist ein Pakt für Stabilität und Wachstum. Es gibt verschiedene Ansichten. Ich denke, dass unsere Zielvorstellung dem gesunden Menschenverstand entspricht.
D’Wort: Besteht die Gefahr, dass die Zustimmung des Europäischen Rates zum Stabilitätspakt mit dem Finanzrahmen 2007/2013 verbunden wird?
Jean-Claude Juncker: Die Verbindungen zwischen Lissabon, Pakt und Finanzrahmen – den drei prioritären Achsen der Luxemburger Présidence – bestehen ja schon in der Sache: Europäische Forschungspolitik etwa kostet Geld. Es gibt also Interrelationen.
D’Wort: Die Kommission fordert ein Finanzpaket mit einem durchschnittlichen Ausgabenniveau von 1,14 Prozent. Für welchen Prozentsatz plädieren Sie?
Jean-Claude Juncker: Im Moment konzentrieren wir uns auf eine partielle Neuausrichtung der Lissabon-Strategie. Erst dann kommen wir zum Finanzrahmen.
D’Wort: Müssen Sie nicht auch Rücksichten auf anstehende Wahltermine nehmen?
Jean-Claude Juncker: Am 22. Mai sind Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Hinzu kommen englische Wahlen. Am 29. Mai ist EU-Referendum in Frankreich, am l. Juni in den Niederlanden. In Polen sind ebenfalls Wahlen. Der Geist der Staats- und Regierungschefs ist nicht immer losgelöst von diesen Terminen. Es ist eine reale Schwierigkeit.
D’Wort: Inwiefern wird ein Erfolg des Lissabon-Gipfels Wahlen und Referenden beeinflussen?
Jean-Claude Juncker: Die Botschaft von Brüssel wird wichtig für die Referenden sein. Ich versuche aber, den Gipfel davon losgelöst zu sehen. Wir brauchen also tragfähige Beschlüsse, die den Integrationsprozess voranbringen. Und in denen die Menschen sich und ihre Sorgen wiedererkennen.
D’Wort: Wie erklären Sie sich die schlechten Umfrageergebnisse – etwa in Frankreich – in Sachen EU-Verfassungsvertrag?
Jean-Claude Juncker: Die europäische Integration ist kein Argument mehr für sich. Die Anfangsjahre der EU verblassen in der kollektiven Erinnerung. Immer weniger Menschen haben den Krieg am eigenen Leib erfahren. Aber auch die europäische Politik tut sich zunehmend schwerer, die EU-Politik zu erklären. Dabei ist das Informationsdefizit erstaunlich hoch, bedenkt man die zahlreichen Zeitungsartikel zur Verfassung.
D’Wort: Für Sie bleibt Europa eine Frage von Krieg oder Frieden?
Jean-Claude Juncker: Europa bleibt ein extrem komplizierter Kontinent. Die bleiernen Gewichte der Geschichte sind noch immer da. Deshalb müssen wir die europäischen Wasserläufe in kontinental gut geordnete Kanäle leiten. Dann wird der Kontinent nicht mehr mit Spaltungen überschwemmt.
D’Wort: Welche Rolle hat der Frühjahrsgipfel heute und morgen für die Luxemburger Presidence?
Jean-Claude Juncker: Zwei Gipfel finden während unserer Présidence statt. Beide sind gleich wichtig. Bleibt der erste ohne Erfolg, wird der zweite jedoch schwieriger.
D’Wort: Wird der Gipfel ein Erfolg?
Jean-Claude Juncker: Es werden schwierige Tage in Brüssel. Aber ich sehe dem Gipfel eigentlich heiter und gelassen entgegen. Mehr heiter als gelassen!
Die Fragen stellte Ady Richard
D’Wort vom 22. März 2005