Wir kämpfen mit stumpfen Waffen

Interview mit Premier Jean-Claude Juncker über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, die finanzielle Vorausschau der EU und der mögliche Beitritt der Türkei

Die Welt: Herr Juncker, Sie sind Premierminister, Finanzminister, ab Januar Ratspräsident der EU und gleichzeitig für zwei Jahre Chef der Euro-Gruppe. Ist das nicht ein bisschen viel auf einmal?

Jean-Claude Juncker: Wenn man bedenkt, wie viel Zeit Regierungschefs damit verbringen, mit ihrem Finanzminister zu streiten, dann ist meine Personalunion ein großer Zeitgewinn. Oft klagen die Finanzminister über die Unvernunft ihrer Regierungschefs, und umgekehrt. Bei mir ist das anders: Ich muss mich nur mit mir selbst unterhalten und kann nach anstrengender Debatte eine Lösung finden.

Die Welt: Die EU-Kommission und die EU-Finanzminister fordern eine Reform der Stabilitätspakts. Sie haben am Pakt mitgeschrieben. Was wurde vernachlässigt?

Jean-Claude Juncker: Beim Stabilitätspakt geht es mir wie bei der Türkei: Zur Türkei habe ich früher Nein gesagt, jetzt sage ich Ja. Beim Stabilitätspakt gehörte ich zu jenen, die ihn gegen viele Widerstände forcieren mussten. Heute fordere ich eine Justierung der Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Ich kann allerdings mit dieser Form des vermeintlichen Widerspruchs leben: Sechs Jahre nach der Einführung des Stabilitätspaktes ist die Zeit gekommen, sich zu fragen, ob bei der Erstfassung des Vertrages etwas übersehen wurde. Denn es wurden Punkte übersehen.

Die Welt:…die wären?

Jean-Claude Juncker: Wir brauchen eine stärkere Form der mittelfristig ausgerichteten Stabilitätsorientierung in wirtschaftlich starken Zeiten. Wenn die Wirtschaft wächst und es deshalb zu Steuermehreinnahmen kommt, müssen Staaten mit hoher Verschuldung und ausgeprägtem Haushaltsdefizit diese Mehreinnahmen zum Abbau der Schulden und der Defizite nutzen. Auch muss ein Land mit hohem Schuldenstand und hohem Defizit anders bewertet werden als ein Land mit niedrigem Schuldenstand, aber mit vorübergehendem Haushaltsdefizit. Dieser Aspekt wurde bei der Formulierung des Stabilitätspakts vergessen.

Die Welt: Was schlagen sie vor?

Jean-Claude Juncker: Es wäre klug, einen Bewertungskatalog für Defizitsünder aufzustellen. Dort müssten länderspezifische Begebenheiten Eingang finden. Gerät ein Land oberhalb der Marke von drei Prozent, muss gefragt werden: liegt das an den Konsumausgaben, an wirtschaftspolitischen Fehleinschätzungen, liegt es an externen Schocks? Hat das Land Strukturreformen eingeleitet? Wie hoch sind die Haushaltsleistungen an die EU? Sieben, acht Punkte, die es erlauben, die Zusammensetzung der nationalen Haushalte zu bewerten. Der Stabilitätspakt kann nicht mit dem Rechenschieber, sondern nur mit ökonomischer Vernunft angewendet werden.

Die Welt: Finanzminister Hans Eichel wird dem zustimmen. Er fordert eine Verrechnung der Kosten für die Wiedervereinigung…

Jean-Claude Juncker: Man kann nicht ganze Haushaltsblöcke für die Anwendung des Stabilitätspaktes immunisieren. Die einen verlangen ein Herausrechnen der Forschungs-oder Verteidigungsausgaben, andere wollen Infrastrukturmaßnahmen oder Nettotransfers an die EU abgezogen bekommen. Auch die Kosten der deutschen Einheit fallen in diese Kategorie. Berücksichtigte man diese Punkte, würde dies zu einem totalen Bewertungschaos führen.

Die Welt: Sie sollen sich mit Gerhard Schröder und Jacques Chirac auf die Verrechnung des Bruttobetrages geeinigt haben…

Jean-Claude Juncker: Von Herausrechnen war nie die Rede, weder brutto noch netto. Wenn aber ein Land ins Defizit rutscht, muß darauf geschaut werden, wie hoch die Beiträge an die EU sind. Das wäre ein Punkt auf der Bewertungsskala.

Die Welt: Defizitsünder können hart bestraft werden. Griechenland aber macht falsche Angaben, kommt aber ungeschoren davon. Wird da nicht mit zweierlei Maß gemessen?

Jean-Claude Juncker: Dies ist Beispiel dafür, daß der Stabilitätspakt nicht vorstellungskräftig genug gewesen ist. Bei der Neuformulierung des Paktes müssen wir abschreckende Strafen für denjenigen vorsehen, der sich in die Währungsunion hineinmogelt. Es ist unbefriedigend, daß wir im Falle Griechenland nur stumpfe Waffen haben.

Die Welt: Bei den Verhandlungen über die langfristige Finanzplanung droht eine Schlacht ums Geld. Wie soll eine immer größere EU mit immer weniger Geld auskommen?

Jean-Claude Juncker: Ich halte wenig davon, die Verhandlungen im Vorfeld auf bestimmte Größenordnungen festzulegen – nach oben wie nach unten.

Die Welt: Wenn Sie eine Liste anfertigen müßten, die sagt, wo einzelne Länder den Rotstift anlegen könnten. Was stünde drauf?

Jean-Claude Juncker: Eine derartige Debatte loszutreten ist gefährlich, weil jedem etwas einfällt, wo der andere sparen kann. Der EU-Haushalt ist die Schnittmenge der europäischen Solidarität. Was für den einen wichtig erscheint, kann für den anderen ohne Bedeutung sein. Wir sollten uns allerdings fragen, ob die bisherigen Mitglieder der EU weiterhin in vollem Umfang von dem Geld aus Brüssel profitieren müssen. Irgendwo muß ja gespart werden. Dies wird nicht bei den neuen Mitgliedern beginnen können.

Die Welt: Sie fordern eine starke EU-Kommission. Doch mehr Macht und mehr Zuständigkeiten treffen in vielen Ländern auf Kritik…

Jean-Claude Juncker: Die Kommission ist kein Putschist, der in abgedunkelten Räumen sitzt und über einen Staatsstreich in Europa nachdenkt. Die Kommission hat per Vertrag Zuständigkeiten. Diese soll und muß sie ausüben.

Die Welt: Die EU kämpft an vielen Fronten gleichzeitig: Verfassung, Türkei, Lissabon-Agenda. Droht sie dabei nicht, sich zu verzetteln?

Jean-Claude Juncker: Die Europäische Union erklärt der ganzen Welt, wie gute politische Fahrpläne aussehen sollen. Sie unterläßt es aber, als gutes Beispiel voranzugehen. Sie nennen die Beispiele: wir beschließen eine europäische Verfassung, wir entscheiden über Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, wir legen die EU-Finanzmittel für die Jahre 2007 bis 2013 fest, reformieren den Stabilitätspakt und wir überprüfen die Lissabon-Agenda. All dies machen wir in einem Zeitraum, der sich auf sechs Monate verdichtet. Die Ratifizierung des Verfassungsvertrages – sei es durch zeitlich nicht abgestimmte Parlamentsabstimmungen oder durch Referenden – erstrecken wir über 18 Monate.

Die Welt: Das klingt nach Chaos.

Jean-Claude Juncker: Im nächsten Jahr wird es jedes Mal, wenn wie europäische Kommission oder die Präsidentschaft eine Initiative ergreift, eine Regierung geben, die sich wegen anstehender Referenden für die Verschiebung der Vorschläge einsetzt. Weil es mehr als zehn Referenden geben wird, laufen wir Gefahr, in “innenpolitische” Immobilität in Europa zu verfallen. Wir wagen nicht, uns zu bewegen, weil irgendwann irgendwo ein Referendum ansteht. Wenn das Volk sich äußert, muß die Politik offenbar monatelang stillhalten – eigentlich müßte das Gegenteil geschehen. Dieser drohende Stillstand ist derzeit meine größte Sorge.

Die Welt: Früher standen Sie einem Beitritt der Türkei skeptisch gegenüber. Heute sind sie für eine Vollmitgliedschaft. Woher der Sinneswandel?

Jean-Claude Juncker: 1997 wollte ich als EU-Ratspräsident der Türkei den Kandidatenstatus nicht zuerkennen, weil ich Sorge vor einer Überdehnung der Union hatte. Zudem wollte sich die Türkei in wesentlichen Punkten der EU partout nicht annähern, vor allem nicht in der Menschenrechtsfrage. Meine Überzeugung hat mir damals viel Ärger und wenig Lob eingebracht. Wenn ich heute noch diese Position hätte, bekäme ich viel Lob und wenig Arger. Doch ich habe meine Meinung geändert.

Die Welt: Weshalb?

Jean-Claude Juncker: Die Türkei hat große Fortschritte gemacht, das gesamte Land ist von einem starken Reformwillen erfaßt. Es wäre weder für uns noch für die Türken gut, wenn dieser Wille erlahmen würde. Bei den Menschenrechten bewegt sich die Türkei deutlich in die europäische Richtung. Auch hat sich die Regierung in Ankara gegenüber dem Militär emanzipiert. Außerdem spielt der 11. September eine Rolle.

Die Welt: Sind die Anschläge als Argument für einen Beitritt der Türkei nicht ein wenig weit hergeholt?

Jean-Claude Juncker: Die Frage des interkulturellen und interreligiösen Dialogs stellt sich vor dem Hintergrund der Attentate in den USA und auch in Spanien neu. Wenn wir jetzt der Türkei die kalte Schulter zeigen würden, könnte dies als Absage an den Islam verstanden werden. Wir können zudem nicht der Türkei seit 40 Jahren eine Beitrittsperspektive geben und die Aufnahme von der Erfüllung von Bedingungen abhängig machen – und dann den Rückzug antreten. Es wäre deshalb nicht richtig, statt Beitrittsperspektiven der Türkei nur eine privilegierte Partnerschaft anzubieten.

Die Welt: Sollte die EU der Ukraine einen Weg in die Union anbieten?

Jean-Claude Juncker: Ich kann nur davor warnen, der Ukraine die Perspektive auf Vollmitgliedschaft anzubieten. Die Türkei-Debatte müßte uns eigentlich klüger gemacht haben. Wir brauchen ein Sonderverhältnis zur Ukraine, das ihrer strategischen Bedeutung gerecht wird.

“Die Welt” vom 9. Dezember 2004
SIP – Service Information et Presse