Man kann hohe Mauern bauen, die Armen werden sie überwinden

Marcel Oberweis: “Europa wird sich in der Flüchtlingsproblematik zu einem “global player” entwickeln müssen”

Europa wird derzeit von einer Flut von Flüchtlingen u. a. aus Afrika überrollt, Menschen die aus ihrer Heimat aus verschiedenen Gründen aufbrechen, um an die Gestaden und Gefilden der Europäischen Union zu gelangen. Uns allen stehen die Bilder von schiffbrüchigen Flüchtlinge an den Küsten Italiens, Griechenland und Spanien vor Augen. Diejenigen die das Glück haben, Land zu erreichen, sollen nun rückgeführt und in den zu errichtenden Aufnahmelagern in Nordafrika untergebracht werden, dieses Unterfangen wirft indes eine Fülle von Fragen auf. Es mag sein, dass diese für Flüchtlinge einen Magneten darstellen, zu welchen sie eilen in der Hoffnung, Hilfestellung zu erlangen oder aber sie bleiben leer, da die Menschen sie meiden, aus Angst, dort ein jahrelanges tristes Lagerleben zu verbringen und nie Europa betreten dürfen.

Sicher, es besteht in der EU Konsens, dass es nicht mehr reicht, auf hereindringende illegale Einwanderer und Asylsuchende nur passiv zu reagieren. Europa wird sich in der Flüchtlingsproblematik zu einem “global player” entwickeln müssen. Dies bedingt aber auch, dass die Bekämpfung der Armut in den Mittelpunkt aller Diskussionen gestellt werden muss, denn ähnlich wie im Kampf der Umweltverschmutzung, macht dieses Problem nicht an den Ländergrenzen halt. Von höherer Wichtigkeit ist die angemessene Aufklärung der Menschen, ohne erkennbare Perspektiven nach Europa aufzubrechen.

Angesichts der Tatsache, dass bereits Millionen von Flüchtlingen unterwegs sind und denen jede Hilfestellung angeboten werden muss, hat die EU-Kommission unter Beteiligung der niederländischen Regierung in diesem Zusammenhang beschlossen, ein besonderes Pilotprojekt des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR mit 1 Million € zu unterstützen. Den Ländern Libyen, Algerien, Tunesien, Marokko und Mauretanien soll bei der Beratung und Ausbildungshilfe zur besseren Bewältigung des Flüchtlingsstroms geholfen werden. Angesichts der Strukturen in diesen Ländern, stellt dies jedoch nicht die beste Lösung in dieser komplexen Materie dar. Die illegale Einwanderung muss bekämpft werden und die Armutsflüchtlinge, die das Asylsystem missbrauchen, sollen abgewiesen werden, zugleich sollen aber in deren Herkunftsländern, zumeist die ärmsten Entwicklungsländer, Programme angekurbelt werden, um den Menschen im Kampf gegen die Armut beizustehen. Ohne einen Sieg gegen die Armut gibt es keinen Frieden und kein Stop der Migration von Flüchtlingen.

Hat nicht Peter Mandelson, der künftige britische EU-Kommissar für Handel darauf aufmerksam gemacht, dass die Zeit gekommen ist, den Entwicklungsländern einen fairen Anteil des Welthandels einzuräumen. Die Entwicklungsländer brauchen einen Agrarmarkt, der weltweit weniger verzerrt ist, hier sind insbesondere die USA mit ihren Exportzuschüssen für ihre Landwirtschaft gefordert. In Bezug auf die anstehende Doha-Runde meinte er, dass den Entwicklungsländern sogar das Dreifache ihrer bisherigen Einnahmen zugute kommen könnten. Wenn wir es ehrlich mit den verarmten Bevölkerungen vor unserer Haustür meinen, dann müssen die Beziehungen zu den AKP-Staaten auf einer ausgewogenen Ebene vertieft und abgeschlossen werden.

In Bezug auf die Energieversorgung Afrikas sollte man nicht vergessen, dass dieser Kontinent über große Energievorkommen verfügt. Die Nutzung der Sonnenenergie in den Saharaländern sowie im Südwesten, die nachhaltige Forstwirtschaft in der grünen Lunge und die Wasserkraft der Flüsse im südlichen Teil des Kontinents. Hier steht ein riesiges energetisches Potenzial an, es gilt nun, die Energieversorgung in enger Zusammenarbeit mit den Menschen aufzubauen.

Mutet es in diesem Zusammenhang nicht grotesk an, dass im Jahr 2003 etwa 900 Milliarden $ für die Rüstung, 300 Milliarden $ Dollar für die Agrarsubventionen in den reichen Ländern, aber nur 50 Milliarden $ für die Entwicklungshilfe aufgebracht wurden. Die nackten Eckdaten zum sozialen Zustand der Welt veranschaulichen den »Himmelsrichtungskonflikt«. Die vielzitierte Kluft zwischen Nord und Süd ist gekennzeichnet durch globale Gegensätze, in ausgedörrten Landstrichen leben verelendete Menschen, die uns mit mitleidig um Brosamen anflehen. Die 2,5 Milliarden Menschen, welche mit nur 2 € pro Tag leben müssen, fragen uns, was wir denn zum Besseren dieser Welt beisteuern.

Bei näherer Betrachtung der EU-Entwicklungshilfe erkennt man, dass sich inzwischen ein negativer Trend in der Entwicklungshilfe einstellt, so werden den ärmsten Ländern im Jahr 2004 nur mehr 275 Millionen € zugesagt, gegenüber 428 Millionen € im Jahr 2003: Die Haut ist eben näher als das Hemd. Eine Politik, die sich die Bekämpfung der Armut auf die Fahnen geschrieben hat, muss nun auch den Mut haben, die notwendigen Finanzmittel den ärmsten Ländern zur Verfügung zu stellen. Mit der aktuellen Lebensmittelproduktion z.B. könnte die auf 6,3 Milliarden Menschen angewachsene Erdbevölkerung problemlos versorgt werden, wenn das Vorhandene vernünftig verteilt würde. Die Globalisierung kann den Menschen die Chance bieten, sich aus der Armut zu befreien, allerdings funktioniert das in vielen Entwicklungsländern nicht. Während China und Indien rasant den Anschluss an die industrialisierte Welt finden, stagniert die Wirtschaft in weiten Teilen Afrikas, die Armut steigt auch in Ländern Südamerikas und Zentralasiens an.

Gleichgültigkeit ist der beste Freund der Verzweiflung und der willkommene Komplize des Bösen

Wen also das Elend der Welt nicht empört, der kann auch schwerlich die Energie aufbringen, die Ursachen zu hinterfragen und diese schließlich zu bekämpfen. Das gegenwärtige System, das den vorhandenen Reichtum nicht gerecht zu verteilen vermag und zudem die kriegerische und ökologische Zerstörung von Mensch und Natur betreibt, ist objektiv überflüssig. Neben der Armut steht zeitgleich das steigende Analphabetentum, während die Industrieländern vom Aufbau der Wissensgesellschaft reden, sehen sich die Entwicklungsländer einer gewaltigen Flut junger Menschen gegenüber, denen die elementaren Grundkenntnisse fehlen, um sich einen Platz in der Welt zu sichern.

Es setzt sich demnach immer stärker die Erkenntnis durch, dass die Armutsbekämpfung, die Ausbildung und die Gesundheitsvorsorge zusammengeführt werden müssen, da sie sich gegenseitig bedingen. Ebenso bedeutet mehr Umweltschutz auch bessere Lebensbedingungen für die Menschen, eine verstärkte Ressourcenschonung, ein Angebot an sauberem Trinkwasser sowie eine gesunde Luft zum Atmen.

Eine sinnvolle Antwort als Lösung zu den geschilderten Krisen kann nur diejenige sein, die einerseits mittelfristig den Gegenwartsproblemen und andererseits langfristig den Bedürfnissen künftiger Generationen Rechnung trägt. Das kommende Zeitalter zunehmender Knappheit von natürlichen Ressourcen führt zu einer Häufung von Konflikten und es hängt stark davon ab, auf welche Weise diese gelöst, gemeistert oder unterdrückt werden. Das neue Europa der 25 muss die Politik des Friedens und der Entwicklung als die strategische Aufgabe allerhöchsten Ranges für den mittelfristigen Zeitraum begreifen.

Einige Elemente der Vision einer gerechteren Welt lassen sich vorab angeben: die Demokratie globalisieren und die Menschenrechte weltweit verwirklichen, die ökonomische Globalisierung menschlich und ökologisch gestalten, den Frieden sichern, die Armut überwinden und die soziale Gerechtigkeit gewährleisten sowie die ausreichende Finanzierung für eine wirksame Entwicklungspolitik schaffen. Chaos, Armut und soziale Instabilität stellen den Nährboden dar, auf denen Fundamentalismus, Hass und Terror gedeihen.

Wir müssen unseren Lebensstil ändern, unsere Produktions-, Konsum- und Lebensweise sind langfristig für die Erde nicht tragbar, der notwendige Wandel kann jedoch nur mit den Menschen gemeinsam entwickelt werden. Luxemburg kann sich glücklich schätzen, dass es Dank der Weitsicht seiner Bürger hier exemplarische Entwicklungspolitik leistet, sie erreicht mittlerweile schon 0,81 % des Bruttoinlandsproduktes und den Prozentsatz kann man sicherlich noch weiter nach oben drücken.

Es dürfte somit hinreichend erklärt sein, dass die Armut und die Perspektivlosigkeit, die Ursachen wachsender Ströme von jungen entwurzelten Menschen aus fremden Ländern sind. Setzen wir auf den Dialog, so geben wir uns die Möglichkeit der Verständigung, eine gemeinsame Wertegrundlage für den gemeinsamen Weg in das 21. Jahrhundert zu finden.

Nur wer über die Situation der Flüchtlingen und die Hintergründe deren Armut genügend informiert ist, kann sinnvolle Aktionen der Gegensteuerung einleiten. Wer die Ärmsten dieser Welt gesehen hat, fühlt sich reich genug, zu helfen, damit eben nirgends Auffanglager eingerichtet und keine weiteren Rückführflüge durchgeführt werden müssen.

Der Autor ist Marcel Oberweis, CSV-Abgeordneter