Mehr als bloß Facelifting

LW-Interview mit Paul-Henri Meyers, Präsident des parlamentarischen Verfassungsausschusses

Diskret, seriös, konsensual – so kann man die Arbeit des parlamentarischen Ausschusses für die Insitutionen und die Verfassungsrevision umschreiben. Präsident des Ausschusses war in den vergangenen fünf Jahren der CSV-Politiker Paul-Henri Meyers.

100 : 20

Luxemburger Wort: Herr Meyers, die Abgeordnetenkammer hat in dieser Legislaturperiode sieben Verfassungsartikel neu formuliert. Ist die Bilanz nicht ein bisschen mager angesichts der Tatsache, dass ursprünglich eine Globalreform beabsichtigt war? Der Premier hatte sogar vorgeschlagen, die neue Konstitution per Referendum anzunehmen.

Paul-Henri Meyers: Sieben Artikel, das ist nicht enorm viel, aber es sind substantielle Änderungen von großer Bedeutung. In der Tat hatte das Parlament 1999, ehe es sich vor den Wahlen auflöste, den gesamten Text zur Revision freigegeben, mit Ausnahme von neun Artikeln, die sich auf die Souveränität der Nation und die Institution des Großherzogs beziehen. Wir haben in der Kommission sämtliche Artikel, einen nach dem anderen, unter die Lupe genommen. Dabei kamen wir zum Schluss, dass rund 20 davon überholungsbedürftig sind. Alle anderen kann man so belassen, wie sie sind. Die Struktur des Ganzen könnte man dagegen neu ordnen – eine Aufgabe für die nächste Kammer.

Im Übrigen verhält es sich so, dass vom ursprünglichen Text, der vom 17. Oktober 1868 datiert, nicht mehr allzu viel geblieben ist. Seit 1948 wurde unsere Verfassung rund 25 Mal abgeändert. Die Modernisierung ist also ein kontinuierlicher Prozess. Daher hielt der Ausschuss es nicht für zweckmäßig, von Grund auf alles neu zu schreiben – eine Übung, bei der man jedes Wörtchen auf die Waage legen müsste. Wir haben eine Verfassung, die sich alles in allem bewährt hat, von der wir wissen, was sie uns wert ist. Wenn die laufende Reform erst mal abgeschlossen ist, wird Luxemburgs Verfassung das Bild eines modernen Staates, einer modernen Demokratie widerspiegeln. Und was das Referendum angeht: Ich sehe wirklich keinen Sinn darin, 100 Artikel beizubehalten, 20 Artikel abzuändern und dann eine Volksabstimmung durchzuführen.

Verfassungsreferendum: “Ein gewaltiger Fortschritt”

LW: Ist die Idee des Volksentscheids definitiv vom Tisch?

P.-H. Meyers: Keineswegs. Mit der Novellierung von Artikel 114, der sich auf die Prozedur zur Revision des Grundgesetzes bezieht, haben wir – nach jahrzehntelanger Diskussion – das Verfassungsreferendum eingeführt. Das ist ein gewaltiger Fortschritt im Sinne der partizipativen Demokratie. In Zukunft kann das Parlament jederzeit in die Rolle der Konstituante schlüpfen und die Verfassung ändern, wenn dies – z. B. wegen der Ratifizierung eines internationalen Vertrags – notwendig erscheint. Es braucht keine vorherige Revisionserklärung mehr, mit anschließenden Neuwahlen. Das kann jetzt viel flexibler gehandhabt werden.

Allerdings sind zwei Abstimmungen mit qualifizierter Zweidrittelmehrheit erforderlich. Dazwischen liegt eine Reflexionszeit von mindestens drei Monaten. Innerhalb von zwei Monaten nach dem ersten Votum kann aber auch ein Verfassungsreferendum in die Wege geleitet werden. Dies geschieht auf Antrag von wenigstens 16 Deputierten bzw. 25 000 nationalen Wahlberechtigten. In diesem Fall entfällt das zweite Kammervotum. Der Ausgang der Volksbefragung ist bindend, also nicht bloß konsultativ.

Wahlrecht, Pressefreiheit, Internationaler Strafgerichtshof

LW: Welches sind die weiteren Punkte, wo die Verfassung einem Facelifting unterzogen wurde?

P.-H. Meyers: Die Reformen gehen zum Teil weit über bloßes Facelifting hinaus. Denken Sie an die Herabsetzung des Mindestalters für das passive Wahlrecht von 21 auf 18 Jahre (Artikel 52). Einzelne Jugendkandidaten profitieren bei diesen Wahlen schon davon. Im gleichen Zug haben wir die vier Wahlbezirke Süden, Zentrum, Norden und Osten in die Verfassung eingeschrieben (Artikel 51-6).

Vor kurzem haben wir Artikel 24 über die Ausdrucks- und Pressefreiheit auf die Höhe der Zeit gebracht. Das geschah im Kontext der Verabschiedung des neuen Pressegesetzes – übrigens die fortschrittlichste Gesetzgebung in ganz Europa, wie uns allenthalben bescheinigt wird.

Allergrößten Wert messe ich auch der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs bei, der für die Ahndung von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig ist. In Artikel 118 steht jetzt expressis verbis, dass unsere Verfassung der Anwendung des Statuts des Strafgerichtshofs – das berühmte Statut von Rom vom 17. Juli 1998 – nicht entgegensteht. In anderen Worten: Luxemburg unterstellt seine Verfassung einer Gerichtsbarkeit des Völkerrechts. Ich halte das für bemerkenswert.

Ein letzter Punkt betrifft die parlamentarische Arbeit an sich. Bis vor kurzem sah Artikel 65 vor, dass die Kammer über sämtliche Artikel eines Gesetzentwurfs separat abstimmen musste. Das Ritual wurde zwar im Schnellverfahren durchgezogen, bei voluminösen Gesetzen war es aber dennoch sehr zeitraubend – kurz: man plagte sich mit sinnentleertem, übertriebenem Formalismus herum. Künftig wird eine Einzelabstimmung nur noch auf Verlangen von mindestens fünf Abgeordneten durchgeführt. Ferner wurde im gleichen Artikel präzisiert, dass beim namentlichen Votum der Gesetze auch Vollmachten – eine pro Abgeordneter – zulässig sind. Artikel 63 wurde aufgehoben.

Verordnungsrecht: Probleme gelöst

LW: Ein äußerst schwieriges Dossier ist das Verordnungsrecht (pouvoir réglementaire). Weil laut Artikel 36 der Verfassung ausschließlich der Großherzog für die Ausführung der Gesetze mittels Verordnung oder Erlass zuständig ist, gab es erhebliche Probleme. Der Verfassungsgerichtshof hat mehrere Gesetzesartikel, die auf eine ministerielle Verordnung ? in einem Fall auch auf die Anwaltskammer ? verweisen, für verfassungswidrig erklärt.

P.-H. Meyers: Ja, die Sache ist dringend. Nach mehrfachem Hinund Her kam schlussendlich eine Einigung mit dem Staatsrat zustande. Ein entsprechendes Revisionspaket wurde jetzt in erster Lesung vom Parlament gutgeheißen. Falls die neue Kammer in zweiter Lektüre grünes Licht gibt, haben wir, glaube ich, eine Lösung, die hieb- und stichfest ist.

Der künftige Artikel 32 bestimmt, dass in allen Domänen, die kraft Verfassung dem Gesetz vorbehalten sind, der Großherzog nur insoweit reglementarisch tätig werden kann, wie es vom Gesetz vorgesehen ist. Mit einer Ausnahme: Bei einer internationalen Krise kann er alle Maßnahmen treffen, die sich in dem Moment aufdrängen – die Gültigkeit solcher Verordnungen ist aber auf drei Monate beschränkt. Im Grunde handelt es sich hierbei um eine Art ständiges Habilitationsgesetz. Dadurch entfällt das jährliche Vollmachtengesetz.

Ausführende Gewalt bleibt nach Artikel 36 der Großherzog. In Artikel 76 wird aber der Zusatz beigefügt, dass der Großherzog die Mitglieder der Regierung mit exekutiven Aufgaben betrauen kann, damit sie z. B. ministerielle Verordnungen erlassen können. Auch die Vertretungsorgane der freien Berufe (Rechtsanwälte, Architekten, Wirtschaftsprüfer usw.) können fortan – verfassungsrechtlich verbrieft – Reglemente erstellen (Artikel 11 Absatz 6). Gleiches gilt für die öffentlich-rechtlichen Anstalten (établissements publics), die erstmals im Grundgesetz erwähnt werden (Artikel 108bis).

Geschlechtergleichheit, Nachhaltigkeit, Tierschutz

LW: Eine ganze Reihe von Verfassungsänderungen bleiben in der Schwebe, einige liegen zur Begutachtung beim Staatsrat, bei anderen wiederum kam kommissionsintern noch kein Konsens zustande.

P.-H. Meyers: Ja, das stimmt. Ich möchte nicht im Detail auf alles eingehen. Es handelt sich u. a. um das Initiativrecht der Abgeordneten, die parlamentarische Immunität, die Einberufung der Kammer, das Briefgeheimnis, die Zusammensetzung und Funktionsweise der Regierung, die Anerkennung der politischen Parteien.

LW: Die Neufassung von Artikel 11, der diverse Grundfreiheiten aufzählt, bereitete zum Schluss Kopfzerbrechen.

P.-H. Meyers: Es ging um die Einschreibung der Gleichheit von Mann und Frau in die Verfassung. Um diese Gleichheit in der Praxis zu erreichen, braucht es die so genannten positiven Maßnahmen. Dem widersetzten sich am Ende aber die DP und das ADR. Sie verweigerten dem vorliegenden Text ihre Zustimmung. Die qualifizierte Mehrheit war damit nicht mehr gegeben. Nach den Wahlen muss man erneut darüber diskutieren.

LW: Sie wollen aber noch andere Grundrechte in Artikel 11 verankern ?

P.-H. Meyers: Ja, die Rechte der Behinderten, das Streikrecht sowie das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung. In letzterem Punkt gab es Schwierigkeiten, weil der Staatsrat monierte, es gebe keine allgemein anerkannte Definition des “développement durable”. Ich glaube, dieses Problem haben wir mit dem neuen Nachhaltigkeitsgesetz gelöst.

LW: Und der Tierschutz?

P.-H. Meyers: Im Ausschuss besteht Einvernehmen, dass der Tierschutz in die Verfassung gehört.

Neuregelung der Thronfolge?

LW: Sie sprachen von einer modernen Verfassung. Bedingt das nicht auch, dass die Thronfolge im Sinne der Geschlechtergleichheit geregelt ist?

P.-H. Meyers: Ich bin nachdrücklich dieser Meinung – nicht nur weil Luxemburg die UN-Konventionen gegen Geschlechterdiskriminierung ratifiziert hat. Deshalb halte ich eine Diskussion über die mögliche Revision von Artikel 3 der Verfassung für opportun.

LW: Herr Meyers, besten Dank für dieses Gespräch.

Luxemburger Wort des 3.6.2004