Kollektivvertrag als soziales Grundelement

LW-Interview mit dem parlamentarischen Berichterstatter über die Reform des Kollektivvertragsgesetzes
Am Dienstagnachmittag steht im Plenum der Abgeordnetenkammer das Gesetzesprojekt 5045 zur Debatte, das sich auf das Kollektivvertragswesen, die Regelung von kollektiven Arbeitskonflikten und das nationale Schlichtungsamt bezieht und verschiedene Gesetze abändert, die arbeitsrechtliche und beschäftigungspolitische Maßnahmen betreffen . Über diese große sozialpolitische Reform, die seit vielen Jahren ein Diskussionsthema ist und zum festen Bestandteil des Forderungskataloges der Gewerkschaften gehörte , sprachen wir mit mit Berichterstatter Marcel Glesener (CSV), zudem Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Arbeit und Beschäftigung.

“Für mich schließt sich der Kreis”

Luxemburger Wort: Als langjähriger Gewerkschaftssekretär bzw. -präsident und Sozialpolitiker dürfte für Sie gewissermaßen ein Traum in Erfüllung gehen, da die Reform des so genannten Kollektivvertragsgesetzes fürwahr ein Dauerbrenner gewesen ist. Was empfinden Sie als Berichterstatter dieser umfangreichen Gesetzesnovellierung?

Marcel Glesener: Ich bin wirklich froh und stolz, weil ich wesentlich an dieser Reform mitarbeiten konnte. Hervorheben möchte ich, dass der Grundstein für diese Reform eigentlich am 30. November 2000 mit einer parlamentarischen Konsultationsdebatte über die Repräsentativität der Gewerkschaften gelegt wurde. Froh bin ich auch, dass die Regierung und vor allem Minister François Biltgen die Ideen aus dieser Debatte übernommen haben. Während zwei Jahren entwickelte sich zwischen ihm und mir eine intensive und gute Zusammenarbeit, die es letztlich möglich machte, dass die Reform eines seit 15 Jahren kontestierten Themas doch noch durchgezogen werden konnte.

Persönlich bin ich mit dem Kollektivvertragswesen eng verbunden, zuerst als Militant in der Stahlindustrie noch vor dem Gesetz von 1965, dann als gewerkschaftlicher Verhandlungssekretär bei unzähligen Kollektivverträgen in nahezu sämtlichen Sektoren und danach, zum LCGB-Präsidenten geworden, als ständiges Mitglied des nationalen Schlichtungsamtes. Angesichts dieser Verbundenheit mit dem Kollektivvertragswesen erfüllt es mich mit großer Zufriedenheit, dass ich jetzt auch noch Berichterstatter für jenes Reformprojekt bin, dessen Verwirklichung ich als Gewerkschaftsmann stets verlangt habe. So schließt sich für mich gewissermaßen der Kreis.

“Christliche Sozialpolitiker stehen am Ursprung”

LW: Von welchen Überlegungen gingen Sie persönlich bei dieser Reform aus?

M. Glesener: Für mich ist das Kollektivvertragswesen der Ausdruck der Sozialpartnerschaft als Alternative zum Klassenkampf.

Verwunderlich ist es daher nicht, dass am Ursprung dieser Entwicklung christliche Sozialpolitiker stehen. So machte Pierre Dupong in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen entsprechenden Gesetzesvorschlag. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Debatte erneut aufflammte, war es Emile Colling, der am 14. Mai 1962 als Arbeitsminister den Entwurf für das am 12. Mai 1965 von der Abgeordnetenkammer gegen die Stimmen der Kommunisten votierte Kollektivvertragsgesetz einbrachte, bei dem Jean Dupong als Berichterstatter fungierte. Nunmehr sind es François Biltgen und ich, die eine große Reform auf diesem Gebiet zum Abschluss bringen.

Eine umfangreiche Reform

LW: Genau genommen geht es bei dieser Reform jedoch nicht allein um das Kollektivvertragswesen als solches und um die Frage der nationalen Repräsentativität. Könnten Sie uns daher kurz beschreiben, was noch in der Vorlage enthalten ist?

M. Glesener: Außer der Regelung der nationalen Repräsentativität geht es auch um die Prozeduren bei den Kollektivvertragsverhandlungen sowie den Anwendungsbereich, die Deutlichkeit und und die Gültigkeit von Tarifverträgen. Darüber hinaus erstreckt sich das Gesetzesprojekt 5045 auf die Funktionsweise des nationalen Schlichtungsamtes, das Streikrecht und die Neuschaffung eines nationalen Observatoriums zur Überwachung der Arbeitsbeziehungen und der Beschäftigungslage.

“Nationale Repräsentativität bedeutet nationale Verantwortung”

LW: Zu was führte die Kollektivvertragspolitik eigentlich bis jetzt in Luxemburg?

M. Glesener: Kollektivvertragspolitik ist ganz einfach Gesellschaftspolitik, da das Einkommen von über 80 Prozent der Beschäftigten in Luxemburg über diesen Weg bestimmt wird. Hinzu kommt, dass die Arbeitsweise durch den Kollektivvertrag festgelegt wird. Es handelt sich hierbei insofern um eine Frage der Lebensqualität, als die kollektivvertraglichen Abmachungen ihre Auswirkungen bis ins Familienleben und die Freizeitgestaltung hinein haben.

Sowohl die Arbeitszeitverkürzung als auch die automatische Lohnindexierung wurden durch das Kollektivvertragswesen ausgelöst.

Weil das Kollektivvertragswesen ein Grundelement des sozialen Friedens darstellt, ist es nur gut und richtig, dass genau definiert wird, welche Kriterien erfüllt werden müssen, um vertragsfähig zu sein, d.h. es muss genau feststehen, wer über die Arbeitnehmer und deren Lebensweise bestimmen kann. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass nationale Repräsentativität gleichbedeutend mit nationaler Verantwortung ist.

Drei Arten von Gewerkschaften

LW: Apropos nationale Repräsentativität. Wer hat Anrecht darauf?

M. Glesener: Durch die Novellierung wird ganz allgemein zwecks Anwendung des Gesetzes der Begriff Gewerkschaft definiert, ohne dass es dadurch jedoch irgendwie zu einer Reglementierung der Gewerkschaften kommen soll.

Im neuen Gesetz wird zwischen drei verschiedenen Arten von Gewerkschaften unterschieden. Das sind zum einen jene, die eine allgemeine nationale Repräsentativität nachweisen können, dann jene, die über die Repräsentativität in einem bedeutenden Wirtschaftssektor verfügen, und schließlich jene, denen von 50 Prozent der Arbeitnehmer aus dem Anwendungsbereich des betreffenden Kollektivvertrages direkt oder indirekt ein Mandat erteilt wurde.

Genaue Bedingungen

LW: So weit, so gut, aber was bedeuten diese verschiedenen Arten von Repräsentativität in der Praxis?

M. Glesener: Beginnen wir mit der nationalen Repräsentativität. Über diese verfügt diejenige Gewerkschaft, die über die erforderliche Effizienz und Macht verfügt,um die sich daraus ergebenden nationalen Verantwortungen wahrzunehmen und gegebenenfalls einen größeren Sozialkonflikt auf nationaler Ebene unterstützen zu können. Uberdies muss sie bei den letzten Berufskammerwahlen im Durchschnitt einen Stimmenanteil von mindestens 20 Prozent bei den Arbeitern und Privatbeamten erhalten haben oder aber mindestens 15 Prozent in einer jeden der beiden Kategorien. Zudem muss eine national repräsentative Gewerkschaft eine tatsächliche Aktivität in der Mehrheit der Wirtschaftszweige haben, wobei die bei den letzten Ausschusswahlen erzielten Resultate als Gradmesser dienen.

Unter Berücksichtigung der Gewerkschaftsgründungen, zu denen es beim Zusammenbruch der FEP kam und die sich vor allem im Finanzsektor zeigten, führt das neue Kollektivvertragsgesetz die sektorielle Repräsentativität ein. Es muss sich um ein Syndikat handeln, das in einem wirtschaftlich bedeutsamen Sektor aktiv ist, bei den letzten Berufskammerwahlen kandidiert und Gewählte bekommen haben muss. Dies bei einem Stimmenanteil von mindestens 50 Prozent in der betreffenden Gruppe oder aber 50 Prozent der Stimmen bei den Delegationswahlen, wenn die Gruppe ganz oder teilweise aus Arbeitnehmern besteht, die nicht in den Anwendungsbereich des Kollektivvertragsgesetzes fallen.

Als bedeutender Wirtschaftszweig gilt derjenige Sektor, der mindestens zehn Prozent der insgesamt in Luxemburg aktiven Arbeiter und Beamten beschäftigt.

Einführung einer Verhandlungskommission

LW: Könnten Sie uns kurz noch andere gesetzliche Neuerungen erläutern?

M. Glesener: Für die heutigen Begebenheiten definierte das Gesetz von 1965 die Vertragsfähigkeit der Gewerkschaften nicht hinlänglich, so dass es immer wieder zu juristischen Auslegungen kam, die trotzdem keine definitive Rechtssicherheit schufen.

In dieser Hinsicht setzt das neue Gesetz, wie bereits vorhin erwähnt, deutliche Signale.

Ein anderes wichtiges Novum besteht in der Einsetzung einer Verhandlungskommission. Ihr gehören von Rechts wegen die national repräsentativen Gewerkschaften und die sektoriell repräsentativen Gewerkschaften an, letztere allerdings nur für die Kollektivverträge in ihren spezifischen Bereichen, für die das jeweilige Abkommen gilt.

Andere Syndikate können zu den Verhandlungen zugelassen werden, wenn die Mitglieder der Verhandlungskommission dies einstimmig beschließen. Zulassungsrecht haben außerdem diejenigen Syndikate, die getrennt oder gemeinsam bei den letzten Ausschusswahlen mindestens die Hälfte der Stimmen in den Unternehmen erringen konnten, die in den Anwendungsbereich des Kollektivvertrages fallen.

Im Grunde genommen kann somit keine Gewerkschaft mehr allein einen Kollektivvertrag unterschreiben, es sei denn sie konnte bei den letzten Delegationswahlen mindestens die Hälfte der Stimmen auf sich vereinigen, und der Arbeitsminister erklärt sich mit der alleinigen Unterschrift einverstanden.

Bei der Verhandlungskommission handelt es sich nicht um einen Schritt in Richtung Einheitsgewerkschaft, sondern um die Stärkung der Gewerkschaftsfront gegenüber den Arbeitgebern und um einen Stabilitätsfaktor für die Berufsbeziehungen auf den verschiedenen Ebenen.

Luxemburger Wort vom 18.5.2004