Jean-Claude Juncker, Staatsminister im “Revue Interview” mit Journalistin Claude Wolf. Premierminister Jean-Claude Juncker sieht 2004 das Ende des Tunnels. Dies umso mehr, als unser Land die Mittel zum Aufschwung hat.
Revue: Die wirtschaftlichen und sozialen Aussichten sind noch immer nicht sehr viel verheißend. Worauf müssen wir uns im kommenden Jahr einstellen?
Jean-Claude Juncker: Die wirtschaftlichen Perspektiven sind 2004 deutlich besser als sie es 2003 waren, was das vergangene Jahr auch bestätigt hat. Internationale Experten rechnen im kommenden Jahr mit einem Aufschwung. Eine so offene, nach außen orientierte Wirtschaft wie die unsrige, ist auf solche positive Zeichen aus dem Ausland angewiesen und kann daraus auch Nutzen ziehen. Allerdings wird der Arbeitsmarkt, der stets mit etwas Verzug auf einen wirtschaftlichen Einbruch reagiert, seine Zeit brauchen, um sich zu regenerieren. Wir müssen deshalb die Arbeitsmarktpolitik im kommenden Jahr noch aktiver gestalten als bisher, um diesen Abschwung aufzuhalten.
Neugewinn und Aufbruchsignal
Revue: Die Niederlassung von Amazon, Microsoft und AOL wurde in den letzten Monaten als Erfolg gefeiert. Nicht zuletzt, weil die hierzulande kassierten Mehrwertsteuern das Budgetdefizit verringern. Aber sie schaffen keine neuen Arbeitsplätze.
Jean-Claude Juncker: Ich habe mich persönlich dafür eingesetzt, dass diese Unternehmen Luxemburg als europäischen Standort aussuchen und ich brauche mich dessen weder zu schämen, noch zu rechtfertigen. In Zeiten wirtschaftlicher Depression ist so ein Neugewinn ein Aufbruchsignal für unser Land und für ausländische Investoren des Internet- und e-Service Bereiches. Alle europäischen Länder haben sich um diese Unternehmen gerissen. Das beweist, dass diejenigen, die vorausschauend planen, Luxemburg als idealen Standort für ihre Tätigkeit betrachten. Es stimmt, dass die Arbeitsmarktüberlegung dabei nicht vorrangig war. Aber das ist kein Grund, diese modernen Unternehmen nicht anzuwerben, denn sie werden expandieren und ähnlich gelagerte Aktivitäten anlocken. Das kann in schwierigen Zeiten unserem Staatshaushalt nur gut tun.
“Es war richtig, in guten Zeiten Rücklagen zu machen”
Revue: Im Vergleich zu unseren Nachbarländern steht unser Staatshaushalt gut da. Es gibt zwar auf der einen Seite ein Budgetdefizit, aber andererseits auch Reserven, um diesen Einbruch zu überbrücken. Wie lange darf die Durststrecke dauern? Wie hoch sind die Rücklagen?
Jean-Claude Juncker: Wir sind das einzige Land in Europa, das in den vergangenen Jahren Gelder gespart hat, die wir jetzt dem Staatshaushalt zuführen können, um das hohe Investitionsniveau zu halten. Hätten Frankreich und Deutschland genau so umsichtig gehandelt, wären sie jetzt nicht in der Defizitsituation, die wir kennen. Das beweist, dass es richtig war, in guten Zeiten Rücklagen zu machen. Diese Politik wurde seinerzeit sehr heftig kritisiert. Wir mussten sie gegen die Meinung der Öffentlichkeit und gegen den Willen vieler politischer Entscheidungsträger durchsetzen. Heute staune ich darüber, dass die damaligen Gegner nach der Höhe der Reserven fragen. Hätte ich auf sie gehört, dann hätten wir überhaupt keinen Notgroschen. Das ist zwar eine sehr klassische Lehrbuch-Finanzpolitik, aber ich kann mir zum jetzigen Zeitpunkt keine bessere vorstellen. Sie geht meiner Meinung nach auch auf, weil es so aussieht, als ob es im zweiten Halbjahr 2004 wieder bergauf gehen wird.
Keine falschen Signale
Revue: Ist es nicht äußerst kurzsichtig, die Löcher in der Krankenversicherung durch Verschiebungen und Umlagerungen zu stopfen?
Jean-Claude Juncker: Wir hatten die Wahl, entweder die Leistungen zu kürzen und damit die Schwachen in der Gesellschaft zu strafen oder die Beiträge zu erhöhen, was die Arbeit verteuert. Beides wäre in einer Zeit, wo wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft erhalten müssen, falsch gewesen. Deshalb war diese Lösung richtig.
Revue: Luxemburg betreibt eine sehr großzügige Sozialpolitik. Sie ist in guten Zeiten besser finanzierbar als in schlechten. Ab wann müssen Sie den Rotstift ansetzen?
Jean-Claude Juncker: In den letzten 20 Jahren ist niemals ein Staatshaushalt so wenig gewachsen wie der gegenwärtige, der inflationsbereinigt nur um knapp 0,2 Prozent anzieht. Dennoch wollte ich bislang keine wirtschaftliche und soziale Vollbremsung vornehmen, die uns aus der Kurve geschmissen hätte. Dafür gibt es angesichts der bestehenden Reserven keinen zwingenden Grund. Doch wenn es in den nächsten Jahren nicht zur Erholung kommt, dann sind Einsparungen, von denen ich heute nur hoffen kann, dass sie nicht allzu drastisch werden, unvermeidlich. Kommt es bis 2006 nicht zum Aufschwung, dann bekommen diejenigen, die genug haben, nichts dazu. Diejenigen, die viel haben, müssen dann möglicherweise etwas abgeben, damit denjenigen, die dringend Hilfe brauchen, diese weiterhin zukommt.
Revue: Geben diese harten Worte den Ton für den kommenden Wahlkampf an?
Jean-Claude Juncker: Die Wahlauseinandersetzung beginnt im Frühjahr. Zuvor muss das Land, angesichts der internationalen wirtschaftlichen und politischen Lage, noch ruhig und vernünftig regiert werden. Als Regierungschef habe ich keine Zeit, mich jetzt schon mit elektoralen Auseinandersetzungen zu beschäftigen.
(Ausschnitte aus Revue Januar 2004 – das Interview führte Claude Wolf)