„Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Ausgang des schwedischen Referendums den Euro-Fahrplan in Großbritannien beschleunigen wird.“

Interview der Börsenzeitung mit Premierminister Jean-Claude Juncker über die zukünftige Entwicklung einer Gemeinsamen Europäischen Währungspolitik, publiziert am 16-09-2003.

Börsenzeitung:Herr Juncker, die Schweden haben sich mit deutlicher Mehrheit gegen den Beitritt zur Europäischen Währungsunion ausgesprochen. Sehen Sie darin eine Belastung für den Euro?

Jean-Claude Juncker: Nein, ich schließe eigentlich aus, dass das schwedische Votum Auswirkungen auf den Außenkurs oder die innere Stabilität des Euro haben wird. Das hat sich im Übrigen auch nach dem dänischen Nein zur Eurozone erwiesen.

Börsenzeitung: Glauben Sie, dass das schwedische Votum Auswirkungen hat auf ein späteres britisches Referendum zum Euro?

Jean-Claude Juncker: Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Ausgang des schwedischen Referendums den Euro-Fahrplan in Großbritannien beschleunigen wird. Ich denke, dass sich die britischen Verantwortlichen mit der finalen Referendumsfrage eher Zeit lassen werden.

Jean-Claude Juncker: “Frankreich in einem konzertierten Verfahren der Euro-Gruppe zu begleiten”

Börsenzeitung:Der französische Finanzminister Francis Mer hat in Stresa zugesagt, das Frankreichs Defizit 2005 unter die Marke von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu drücken. Ist das ein Angebot, das die Währungszone akzeptieren kann?

Jean-Claude Juncker: Es ist immerhin ein Fortschritt gegenüber den bisherigen Erklärungen der französischen Regierung, vor 2006 wäre eine Rückkehr unter die Defizitmarke von drei Prozent nicht möglich. Mer hat sich verpflichtet, vor allem im Gesundheitswesen nach der schon erfolgten Rentenreform die notwendigen Reformschritte einzuleiten, um die Defizitbildung abzubremsen und die Neuverschuldung wieder unter drei Prozent zu bringen.

Dazu wird Frankreich einer Überwachung mit regelmäßiger Berichtspflicht unterstellt. Auch wenn ich mit dem jetzt erreichten Diskussionsstand nicht unbedingt zufrieden bin, halte ich es aber für sinnvoll, Frankreich in einem konzertierten Verfahren der Euro-Gruppe auf diesem Weg zu begleiten. Das ist auf jeden Fall besser, als stur Sanktionen zu verhängen.

Börsenzeitung:Ist damit die Empfehlung der Finanzminister vom Juni vom Tisch, wonach Frankreich das Defizit schon im nächsten Jahr unter drei Prozent senken muss?

Jean-Claude Juncker: Wir befinden uns in einer Debatte. Teil dieser Debatte sind die Aufforderungen an Frankreich, im nächsten Jahr maximale Anstrengungen zur Kontrolle des Defizits zu unternehmen, um dann 2005 zielverpflichtend unter drei Prozent zu kommen. Dabei würde ich gerne darauf aufmerksam machen, was in anderen Ländern weniger beachtet wird, dass die vom französischen Parlament verabschiedete Rentenreform bereits das strukturelle Haushaltsdefizit Frankreichs um einen Prozentpunkt im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt absenkt. Das ist kein Kinkerlitzchen, sondern eine substanzielle Strukturreform, von der ich mir mehrere in der Europäischen Union wünschen würde.

Jean-Claude Juncker: “Zur solidarischen kollektiven Verantwortung für die gemeinsame Währung gehört auch, Rücksicht zu nehmen auf die Befindlichkeiten in anderen Staaten.”

Börsenzeitung:Könnte die Zielgröße von einem Prozentpunkt auch die Marschroute für Frankreich im nächsten Jahr sein? Währungskommissar Pedro Selbes hat in Stresa erklärt, die von Paris bislang angebotene Verringerung des strukturellen Defizits um 0,5 Prozent des BIP reicht nicht aus.

Jean-Claude Juncker: Das ist eine Debatte, die wir zurzeit mit den Franzosen durchexerzieren. Ich möchte mich jetzt nicht auf Prozentsätze festlegen, aber ich fühle mich mit dem, was Selbes gesagt hat, inhaltlich in Übereinstimmung.

Börsenzeitung:Sehen Sie ein Problem darin, dass Zusagen der Finanzminister in der Euro-Gruppe, besonders die von Francis Mer, in der Vergangenheit wiederholt kassiert wurden, wenn sich die Chefebene, also Staatspräsident Jacques Chirac, eingeschaltet hat? Anders herum: Müsste nicht die Euro-Gruppe von Zeit zu Zeit auf Ebene der Staats- und Regierungschefs tagen, um mit eigenem .Peer Pressure’ die Koordination der Finanz- und Wirtschaftspolitik verbindlicher zu gestalten?

Jean-Claude Juncker: Ich würde, wenn ich an solchen Treffen in der Zusammensetzung teilnehmen würde, wie von Ihnen anempfohlen, einen Sicherheitsgurt mitnehmen.

Börsenzeitung:Warum?

Jean-Claude Juncker: Weil ich der Meinung bin, dass sowohl auf Ebene vieler Regierungschefs als auch vor allem auf Ebene vieler Ressortminister in der Europäischen Union die Stabilitätshaltigkeit der Eurozone als politisches Gestaltungskonzept noch nicht angekommen ist.

Das wirkliche politische Problem, das wir durch die Frankreich-Debatte hatten und haben, ist, dass vor allem Finanzminister kleinerer Länder kaum noch Gehör in Parlamenten und Kabinetten finden, wenn sich der Eindruck verbreitet, dass größere Länder wie Frankreich sich alle Freiheiten der Welt nehmen können.

Zur solidarischen kollektiven Verantwortung für die gemeinsame Währung gehört auch, Rücksicht zu nehmen auf die Befindlichkeiten in anderen Staaten, die sich redlich bemühen, im fairen Wettbewerb miteinander unter der Marke von drei Prozent Defizit zu bleiben. Deshalb ist die französische Selbstverpflichtung, in 2005 unter drei Prozent zu landen, und diesen Prozess in 2004 zu beginnen, eine gute Nachricht.

Jean-Claude Juncker: “Die großen Tanker müssen lernen, sich in Europa ähnlich rasch zu bewegen wie die kleinen Schnellboote.”

Börsenzeitung: Glauben Sie, das Staatspräsident Chirac diesen neuen Kurs mitmachen wird?

Jean-Claude Juncker: Ich habe 1996 im Dezember in Dublin zwischen den Herren Kohl und Chirac den Stabilitätspakt vermittelt, und den Vorschlag gemacht, dass die Staaten, die an der Eurozone teilnehmen, sich selbst verpflichten, unter der Marke von drei Prozent zu bleiben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Chirac an diese Abmachung keine Erinnerungen mehr hätte.

Zu Deutschland. Auch Berlin wird 2004 wohl Probleme haben, das Haushaltsdefizit unter drei Prozent zu halten. Folgt man ihrer Linie, müsste auch Berlin, wenn es seinen Reformkurs durchhält, nicht mit verschärften Auflagen aus Brüssel rechnen, selbst wenn das Defizit im nächsten Jahr nicht maastrichtkonform ist?

Jean-Claude Juncker: Strukturreformen sind notwendig, auch in Deutschland. Deshalb werden diese ja auch angegangen. Das heißt aber nicht: Weil Deutschland Strukturreformen in der Mache hat, kann es sich vorübergehend vom Kriterium der drei Prozent entfernen.

Ich denke, und das ist auch die generelle Auffassung der Kollegen, dass Deutschland bei einer Wachstumshypothese von zwei Prozent die Neuverschuldung im nächsten Jahr unter drei Prozent halten wird. Hinzu kommt, dass man auch Kollegen aus kleineren Ländern manchmal erklären muss, dass es gute europäische Gründe für wachstumsimpulsgebende Initiativen der deutschen und der französischen Innenpolitik gibt. Ein Land wie Luxemburg etwa, das über die Hälfte seiner Exporte in Deutschland und Frankreich absetzt, hat ein Interesse daran, aus eigenen Wachstums- und Exportgründen, dass es zu einer deutlichen Erholung der deutschen und der französischen Wirtschaft kommt.

Es geht der luxemburgischen Wirtschaft nicht besser, wenn man gegen Deutschland und Frankreich Sanktionen verhängt. Es geht der luxemburgischen Wirtschaft besser, wenn in Deutschland und in Frankreich die richtige Politik gemacht wird. Die kleineren Staaten in Europa, die in den letzten Jahren stabilitätsbewusster zu haushalten wussten, haben diese Schritte längst hinter sich. Die großen Tanker müssen lernen, sich in Europa ähnlich rasch zu bewegen wie die kleinen Schnellboote.

Börsenzeitung: Noch einmal nachgefragt. Muss Deutschland mit einer Verschärfung der Auflagen aus Brüssel rechnen, wenn bei Hans Eichel im nächsten Jahr die Konjunktur nicht mitspielt und das deutsche Defizit oberhalb von drei Prozent bleibt?

Jean-Claude Juncker: Ich würde dies nicht abschließend beantworten wollen. Man wird bei der Beurteilung dieser Frage alle Politikelemente bedenken müssen, auch die Tatsache, dass Strukturreformen in Deutschland unterwegs sind. Aber sich jetzt schon mit der Frage zu beschäftigten, was geschähe, wenn Deutschland ein Wirtschaftswachstum von zwei Prozent nicht erreicht, hielte ich für verfrüht.

Jean-Claude Juncker: “Die Finanzminister werden sich niemals damit abfinden, dass es nur einen legislativen Rat geben wird.”

Börsenzeitung: Im nächsten Monat startet die Regierungskonferenz zur Reform des europäischen Vertragswerks. Nach der Dauerdiskussion um den Stabilitätspakt wäre dies doch eine Chance, Änderungen oder Konkretisierungen am Pakt vorzunehmen, also beispielsweise zur Frage, wann “besondere Umstände” vorherrschen, in denen die Rückführung eines übermäßigen Defizits mehr Zeit in Anspruch nehmen kann…

Jean-Claude Juncker: Ich bin mit einigen Detaildispositionen des Paktes einverstanden, wohl aber nicht immer mit deren Auslegung. Und ich wäre sofort dafür, ohne den Pakt aufzuschnüren, einige Details aufgrund gemachter Erfahrungen zur Diskussion zu stellen. Aber im Moment, wo mindestens zwei der großen europäischen Volkswirtschaften Schwierigkeiten haben, den Pakt zu respektieren, wäre es ein verheerendes Signal, wenn wir den Pakt jetzt neu justierten. Das hätten wir in den Jahren 1999 oder 2000 machen können, wenn Frankreich und Deutschland damals ihre Haushalte so gestaltet hätten, dass es zu einem substanziellen Defizitabbau gekommen wäre. Aber in einem Moment, wo sich die Frage stellt, wird der Pakt respektiert oder wird er es nicht, diesen zu einem Verhandlungsobjekt zu machen, hielte ich für einen wirklich stabilitätsgefährdenden Vorgang.

Börsenzeitung:EU-Kommissar Solbes hat in Stresa signalisiert, Nachbesserungswünsche der Euro-Gruppe für die Regierungskonferenz sollten nur dann in die Verhandlungen eingebracht werden, wenn der Entwurf des Konvents für die europäische Verfassung noch einmal aufgeschnürt wird. Wie stehen Sie dazu?

Jean-Claude Juncker: Ich teile diese Linie eigentlich nicht. Es würde Sinn machen, die Euro-Gruppe beispielsweise zum beschlussfassenden Organ für die Währungszone zu machen. Allerdings wird in den großen Ländern das Quasi-Diktat herumgereicht, dass am Konventsergebnis nicht gerüttelt werden dürfte. Dem werde ich mich nicht in den Weg stellen. In den nächsten Monaten wird sich aber dennoch zeigen, dass einige kleinere, nicht substanzielle Punkte aus dem Konventstableau noch einmal aufgemacht werden. Die Finanzminister werden sich niemals damit abfinden, dass es nur einen legislativen Rat geben wird.

Börsenzeitung:Die Europäische Zentralbank wird im November mit Jean-Claude Trichet einen Franzosen an ihrer Spitze haben. Erwarten Sie, dass mit Trichet sich an der Linie der EZB etwas ändern wird?

Jean-Claude Juncker: Ich habe Herrn Trichet 1991 kennen gelernt, als ich den Vorsitz der Regierungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion rührte, und ihn seitdem als einen ausgewiesenen stabilitätsorientierten Zentralbanker erlebt. Im Übrigen hat sich die währungspolitische Jurisprudenz der Europäischen Zentralbank inzwischen so verstetigt, das auch Herr Trichet, der den Kurs der EZB wesentlich konspiriert hat, diesen nicht abändern könnte.

Börsenzeitung:In den nächsten Monaten dreht sich wieder einmal das Personalkarussell für die nächste Europäische Kommission. Stehen Sie als neuer Präsident der Brüsseler Europabehörde zur Verfügung?

Jean-Claude Juncker: Ich kandidiere am 13. Juni 2004 für das Amt des luxemburgischen Premierministers.