Unsere Mitte finden

Jean-Claude Juncker über seine Perspektiven für das Jahr 2003.
Die zu Ende gehenden zwölf Monate waren in allen Hinsichten ein durchwachsenes Jahr, ein Jahr der Durchbrüche und Einbrüche, ein Jahr der ins Ziel gebrachten Projekte und der sich weiter entfernenden Hoffnung.

Die erfolgreich zu Ende geführten Verhandlungen mit den EU-Beitrittskandidaten sind ohne jeden Zweifel der Durchbruch des Jahres. Neben den zwei Mittelmeerstaaten Malta und Zypern stoßen acht mitteleuropäische Staaten zur Europäischen Union. Ihre Aufnahme in die europäische Familie korrigiert die schiefe Nachkriegsarchitektur Europas. Europäische Geographie und Geschichte haben Frieden geschlossen. Vor 13 Jahren noch belauerten uns in Mitteleuropa stationierte Atomsprengköpfe. Jetzt “belauern” uns die Hoffnungen von 75 Millionen “neuen” Europäern, die nie etwas anderes wollten als Europäer zu sein.

Politischer Durchbruch in Europa und wirtschaftlicher Einbruch in Luxemburg gaben sich im Jahre 2002 die Hand. 71 Prozent der Weltwirtschaft – USA, Japan und Europa – versinken in der Krise. Diese hat nun auch Luxemburg voll getroffen. Wir sind besser gewappnet als unser Nachbarn : wir verfügen über Finanzreserven, unsere Staatsschuld ist niedrig, unsere öffentlichen Investitionen bewegen sich auf hohem Niveau. Trotzdem: Wir müssen Maß halten, Prioritäten abwägen, sparsamer regieren.

Der Dynamisierung der Wirtschaft kommt allerhöchste Bedeutung zu. Aber 2003 wird nicht nur aus Wirtschaftspolitik bestehen. Sehr schnell wird sich die Gesellschaftspolitik der innenpolitischen Agenda bemächtigen: Partnerschaft außerhalb der Ehe, Sterbebegleitung und neue Formen der politischen Mitbestimmung werden uns ein großes Maß an Verständnis, Toleranz und Entscheidungsvermögen abverlangen. Sture Parteipolitik würde Lösungen verhindern, plurale Breit- und Weitsicht wird sie ermöglichen. Wir müssen im Jahre 2003 zuhören lernen. Mein Wunsch für 2003: Aufeinander hören und aufeinander zugehen, damit wir unsere Mitte finden.

Jean-Claude Juncker

Luxemburger Wort 31. Dezember 2002