10. Mee 2000
Am 10. Mai vergangenen Jahres sprach Staatsminister Jean-Claude Juncker in seiner Erklärung zur Lage der Nation zum ersten Mal von einer Wachstumslogik, die unser Land in Richtung 700.000 Einwohner führen wird, wenn sie sich ungebremst fortsetzt. Kurz nach seiner Rede, in der darauf folgenden Parlamentsdebatte zur Lage der Nation – noch immer im Jahr 2000 – lösten sich die Fraktionssprecher am Rednerpult ab, um dieses größere Land mit seinen möglicherweise 700.000 Einwohnern aufzugreifen. Kein Oppositionspolitiker stellte damals prinzipiell das luxemburgische Wachstum infrage.
Szenenwechsel. Nach Abschluss des Rententisches im Jahre 2001, etwa fünfzehn Monate nach dem 10. Mai 2000, erklärte derselbe Jean-Claude Juncker, die am Rententisch beschlossenen Maßnahmen würden zwangsläufig darauf hinauslaufen, dass unser Land 700.000 Einwohner braucht, um die Renten langfristig finanzieren zu können. Im Gegensatz zum vorigen Jahr brach nach dieser Aussage vor zwei Monaten eine heftige Debatte um die 700.000 Einwohner aus, die mittlerweile von Teilen der Öffentlichkeit aufgegriffen worden ist.
Während fünfzehn Monaten hat sich kaum ein Parteiführer, Parlamentarier oder Journalist für das größere Luxemburg interessiert. Das Thema war offensichtlich keins. Bis es vor einigen Wochen im Rahmen des Rententisches wiederbelebt werden konnte. Heute behaupten von schwerer Amnesie geplagte politische Treibgutsammler, der Staatsminister habe nach dem Rententisch unüberlegt die 700.000-Einwohner-Debatte angestoßen. Dies ist falsch. Seine Ankündigung, dass wir in dieser Richtung marschieren, erfolgte im Mai 2000 – und nicht erst im Juli 2001!
Tatsächlich verwies der Staatsminister nach Abschluss des Rententisches erneut auf das Szenario eines wesentlich größeren Luxemburg. Und tatsächlich darf niemand ernstlich daran zweifeln, dass die Rententisch-Beschlüsse in der Perspektive eines ungebrochenen Wirtschaftswachstums getroffen wurden. Weiteres Wachstum bedeutet weitere Arbeitnehmer, also Einwohner. Dies alles war lange vor der Einberufung des Rententisches von allen betroffenen Partnern akzeptiert worden. Opposition inklusive.
Die Bevölkerung unseres Landes ist in den letzten zwanzig Jahren um mehr als 25% gestiegen, heute leben bei uns knapp 100.000 Menschen mehr als 1980. Im letzten Jahr wurden rund 14.000 neue Arbeitsplätze geschaffen, in den beiden Jahren davor jeweils um die 10.000. Luxemburg wächst seit anderthalb Jahrzehnten kräftig. Dieses Wachstum ist bis heute ohne größere Zwischenfälle über die Bühne gegangen. Die 100.000 “Neuen” werden kaum jemandem aufgefallen sein. Wieso also würden die nächsten 100.000 Einwohner hierzulande plötzlich zu einem dringlichen existentiellen Problem?
Ob es in Luxemburg je 700.000 Einwohner geben wird, steht nach wie vor nicht fest. Die wirtschaftliche Entwicklung, die für eine derartige Bevölkerungszunahme zugrunde gelegt werden müsste, kann nicht treffsicher auf über zwanzig Jahre vorausgesagt werden. Fakt ist aber, dass die Bevölkerung unseres Landes weiterwachsen wird, und zwar bis auf weiteres. Die Einwohnerzahl unseres Landes kann demnach in dreißig Jahren 550.000, 600.000 oder 725.000 sein. Nur eins wird sie in keinem Fall, und zwar stagnieren.
Wir können unsere Grenzen nicht schließen. Wir wollen sie auch nicht schließen. Ebenso wenig, wie wir die Steuerlandschaft unverändert lassen wollen, und so weiteres Wirtschaftswachstum verhindern.
Also wird es weiteres Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum geben. Wir werden unser Land mit mehr Menschen teilen müssen, als dies heute der Fall ist. Und darauf müssen wir uns vorbereiten. Ab jetzt. Die Politik ist in der Pflicht, die Möglichkeiten, die Wege, die Chancen und Gefahren aufzuzeigen. Sie muss das Land für eine größere Einwohnerzahl fit machen.
Das wird sie in Angriff nehmen. Zügig, aber ohne Hast. Mit klarem Kopf und ruhiger Hand.
Lucien Weiler