“Keine soziale Schieflage zu erkennen”
Fragen an Premierminister Jean-Claude Juncker
? Frage 1 :
Sie haben die Entscheidungen des EU-Gipfels von Nice als gut für Luxemburg und ausreichend für Europa bezeichnet. Was ist « gut für Luxemburg und ausreichend für Europa »?
Jean-Claude Juncker
“Aus strikt luxemburgischer Sicht ging es der Regierung um drei wesentliche Zielsetzungen.
– Es galt die totale Übermacht der vier großen Länder in einer nach Ost- und Mitteleuropa erweiterten europäischen Union zu verhindern. Dieses Ziel wurde erreicht: Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien verfügen nur über 116 der 258 Stimmen im Ministerrat; die drei Benelux-Staaten bringen es mit ihren 26 Millionen Einwohnern auf die gleiche Stimmenzahl (29) wie Deutschland mit seinen 82 Millionen Bürgern; die Stimmenzahl Luxemburgs wurde von zwei auf vier erhöht, genau soviel wie die bevölkerungsstärkeren Estland, Lettland und Slowenien. Damit steht fest: Die kleinen Mitgliedstaaten werden nicht zu Zaungästen des europäischen Geschehens degradiert sondern, bleiben Akteure der kontinentalen Gestaltung.
– Luxemburg hat stets auf das Prinzip « ein Kommissar pro Land » gepocht. Die großen Mitgliedstaaten konnten sich mit ihrem Ansinnen, die Kommission zu verkleinern und damit ihre Legitimation zu schwächen nicht, durchsetzen.
– Luxemburg wollte die Zahl seiner Europa-Abgeordneten endgültig auf sechs festgeschrieben sehen.
Dies ist gelungen. Nur Deutschland und Luxemburg behalten die Abgeordnetenzahl über die sie verfügten. Auch die Zahl der Mitglieder des Europäischen Wirtschafts- und Sozialrates bleibt unverändert bei sechs. Deutschland hat nur viermal mehr obwohl dessen Bevölkerung die unsrige 165 mal übersteigt.
Aus europäischer Sicht reicht das Resultat von Nice, um die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa so wie nach Zypern und Malta vornehmen zu können. Die Institutionen der Union bleiben nach erfolgter Reform entscheidungsfähig, auch nach der Erweiterung.”
? Frage 2 :
Sie sagen, aus europäischer Sicht sei das Resultat « ausreichend ». Welcher Fortschritte hätte es denn bedurft damit es « gut » wird?
Jean-Claude Juncker
“Wir haben zwar eine stattliche Anzahl von Vertragsartikeln von der Einstimmigkeitsregel in den Bereich der Mehrheitsentscheidungen überwiesen. Aber in einigen Substanzbereichen sind wir nicht entscheidend weitergekommen. Wir hätten uns Mehrheitsentscheidungen in den Feldern der gesamten Handelspolitik, der Einwanderungspolitik und der Arbeitsrechtspolitik gewünscht. Es wäre an der Zeit gewesen, dass sich die europäische Union auf den Weg macht, einen mit Mehrheit festzulegenden Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten zu verabschieden. Sogar in Sachen Steuerpolitik hatten wir vorgeschlagen, das Dumping in puncto Betriebsbesteuerung ins politische Visier zu nehmen. Leider wurde dieser Vorschlag abgeschmettert. Aber jetzt wird niemand Luxemburg guten Glaubens vorwerfen können, wir stünden auf der steuerpolitischen Bremse.”
? Frage 3 :
Stichwort Steuern. Ab 1. Januar 2001 zahlen die Luxemburger weniger Steuern. Wie geht es 2002 weiter?
Jean-Claude Juncker
“Mit ihrem Vorstoß, die laut Regierungsprogramm erst für das Jahr 2002 geplante Steuerreform zum größten Teil auf das Jahr 2001 vorzuziehen hat die Regierung die Sozialisten und die anderen Oppositionsparteien überrascht und politisch schachmatt gesetzt. So entsetzt die Sozialisten über diese Entscheidung auch waren, so froh waren die Steuerzahler über sie. Sie hat auch eindrucksvoll belebt, dass die Regierung allen Unkenrufen zum Trotz entscheidungsstark ist. Die Sozialisten sind in der Defensive, nicht wir. Sie waren es schon als wir – ohne dass sie oder die Gewerkschaften dies gefordert hätten – wegen der stark angestiegenen Erdölpreise eine Heizkostenzulage ankündigten.
Im Jahre 2001 fallen die Steuern, steigen die Renten, die Mindestlöhne und das Mindesteinkommen. Die Heizkostenzulage kommt vor allem einkommensschwachen Familien mit Kindern zugute. Ich kann in diesem Gesamtpaket keine soziale Schieflage erkennen.
Im Jahre 2002 werden die Steuern weiter fallen und verschiedene Sozialleistungen angehoben. Die Sozialisten verfügen nicht über das sozialpolitische Monopol. Die CSV versteht davon mindestens soviel wie sie.”