In allen Staaten der Europäischen Union finden umwälzende demographische und sozioökonomische Veränderungsprozesse statt, die nicht ohne Auswirkungen auf die Sozialversicherungssysteme der einzelnen Mitgliedstaaten bleiben. Dieses System der sozialen Sicherheit, dessen Grundgedanke auf die Schaffung kollektiver Versicherungssysteme (Otto von Bismarck) und nationaler Solidaritätsmechanismen (W. H. Beveridge) beruht und dessen Garant der Staat geworden ist, gründet vordergründig auf der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft als wesentliche Voraussetzung für umfangreiche Transferleistungen der kollektiven Sozialversicherungssysteme im Rahmen ä Umverteilung von Einkommen.
Wenn heute vielfach von der Krise des Sozialschutzstaates die Rede ist, so geschieht dies in erster Linie vor dem Hintergrund demographischer Fakten. Die Bevölkerung Europas wird immer älter. Statistischen Angaben zufolge altert die Bevölkerung der EU jedes Jahr um 2,5 Monate bzw. alle zehn Jahre um zwei Jahre. Dieser Trend wird sich voraussichtlich bis weit ins 21. Jahrhundert fortsetzen. Dar Anteil der unter 20-,Tährigen an der Bevölkerung wird noch weiter abnehmen und von 22 Prozent im Jahre 1995 auf 17 Prozent irr Jahre 2030 schrumpfen, während der Anteil der über 60-Jährigen von 20 Prozent im Jahre 1995 auf 35 bis 38 Prozent im Jahre 2030 steigen wird.
Betrachtet man die Zahl der Älteren im Vergleich zur beruflichen aktiven Bevölkerung, so stellt man fest, dass 2030 auf 100 beruflich aktiv Beschäftigten, 73 über 60-Jährige entfallen. 1990 entfielen nach den vorliegenden EU-Zahlen auf 100 Beschäftigte 35 über 60Jährige. Diese Zahlen verdeutlichen, dass aufgrund der hohen Zunahme des Anteils älterer Menschen (60 Jahre und mehr) die Zahl der nichterwerbstätigen Leistungsempfänger pro Beitragszahler unter gleichbleibenden Bedingungen steigen wird, eine Tatsache, die bei den Diskussionen bezüglich der Neuordnung der sozialen Sicherheitssysteme in Betracht zu ziehen sein wird.
Wie wird die Zukunft aussehen? Eine Analyse der Auswirkungen der demographischen Alterung auf die Sozialausgaben in Farm von Ruhegehältern sowie der Gesundheitskosten für Hochbetagte über den Zeitraum 1990 bis 2020 geht davon aus, dass die Ausgaben in diesen beiden Sparten der sozialen Sicherheit um etwa 40 Prozent steigen könnten. Die alles entscheidende Frage wird daher sein, ob die Triebkräfte der sozialen Marktwirtschaft, deren erfolgreiche Dynamik ein weitgespanntes leistungsfähiges Netz der sozialen Sicherheit ermöglichte, mittel- und langfristig in der Lage sein werden, den gesteigerten Ansprüchen an den Sozialstaat gerecht zu werden.
Reicht Wirtschaftswachstum auf die Dauer allein aus, damit alles so läuft, wie bisher? Oder befindet sich das europäische Entwicklungsmodell in einer tief greifenden Strukturkrise? Dann wäre die gesamte soziale Organisation neu zu überdenken. Was die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherheitssysteme bei gleichem Leistungsangebot betrifft, wird man mittelfristig zwischen zwei Optionen zu entscheiden haben: entweder Erhöhung der Pflichtabgaben mit der Gefahr, Unternehmen und Erwerbstätige in einer Weise zu belasten, die auf die Dauer unerträglich wird, oder Stabilisierung der Ausgaben, verbunden mit der Erwartung, dass ein lang anhaltendes Wirtschaftswachstum in den kommenden 20 Jahren die gleichen Transferleistungen ermöglicht wie bislang.
Wertewandel und vor allem der schwindende Solidaritätsgedanke, eine Folgeerscheinung des steigenden Individualismus in der heutigen Gesellschaft, werfen sozialphilosophische und ethische Probleme auf, die die Legitimität des Sozialstaates unmittelbar berühren. Das Bestreben, Bedürfnisse durch ein Minimum an Anstrengungen zu befriedigen, der ständige Ruf nach dem Sozialstaat, hat bei vielen zu allzu großen Versorgungserwartungen geführt, die das kollektive Verantwortungsbewusstsein (Gegenseitigkeit), Grundlage einer echten Solidaritätsgemeinschaft innerhalb der Systeme der sozialen Sicherheit, untergraben.
Sozialpolitische und ethische Probleme stehen ebenfalls an, wenn Mindesteinkommen gewährt worden, die mitunter eine Kaufkraft haben, die höher als diejenigen von Haushalten sind, die vom Mindestlohn leben müssen. Die Neuordnung unseres Sozialsystems
mit dem Ziel, es im Rahmen der großen wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungstrends auf eine dauerhafte und lebensfähige Basis zu stellen, ist eine der größten Herausforderungen, der wir uns zu stellen haben. Sozialpolitik zum Wohl der Allgemeinheit ist mehr als die Befriedigung materieller Bedürfnisse. Sie ist das, was der Gesellschaft ihren Zusammenhalt und ihre langfristige Dynamik verleiht.
Jean Altmann (Schifflingen)