Avantgarde

“Eine Avantgarde, die für jeden zugänglich bleibt”

Luxemburgs Premier Juncker fordert mehr Differenzierung in der EU als Rezept gegen Erstarrung

Vor zehn Tagen forderte Bundesaußenminister Joschka Fischer in Berlin in einer viel beachteten Rede die Gründung einer Europäischen Föderation mit einer eigener Regierung, einem direkt gewählten Präsidenten und einem vollwertigen Parlament. Zu diesen Vorschlägen äußerte sich nun der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker. Waren Sie von Fischers Rede überrascht? Die meisten Ideen, die Fischer vorgetragen hat, sind nicht neu. Wenn der frühere Bundeskanzler Kohl diese Rede gehalten hätte – und er hätte sie auch halten können -, hätte sie keine derartige Aufmerksamkeit erzielt. Die eigentliche Botschaft ist doch, dass sich Fischer in einem Moment für die Weiterführung der europäischen Einigung ausspricht, wo es einige Zweifel an der Machbarkeit Europas gibt. Viele Beobachter haben erleichtert aufgeatmet, eine Berliner Stimme zu hören, die weit über die vor uns liegenden Jahre hinaus an Europa weiterarbeiten will. Sind Sie mit den Vorschlägen denn einverstanden? Ich glaube nicht, dass wir jetzt schon so weit sind, einen europäischen Präsidenten zu wählen.

Aber es steht für mich außer Zweifel, dass man das eines Tages tun muss. Die Richtung stimmt, die Fischer beschreibt. In welchem Zeithorizont sehen Sie diese Entwicklungen? Ich habe keine Zeitvorstellungen. Ich weiß nur, dass ein Vertrag nach Fischers Machart heute nicht zustimmungsfähig wäre, in keinem nationalen Parlament der EU. Die öffentliche Meinung in Europa und die parlamentarische Meinung in Europa sind einfach noch nicht so weit entwickelt. Was kann man tun, damit sich das ändert? Ich glaube nicht, dass die meisten politisch Handelnden, geschweige denn die meisten Bürger, sich der Schwierigkeiten bewusst sind, eine EU mit 30 Mitglieder handlungsfähig zu halten. Je sichtbarer die Gefahr der Unbeweglichkeit wird, umso mehr wird die Einsicht wachsen, dass wir bewegungsfördernde Instrumente brauchen. Was stellen Sie sich vor? Das Instrument ist die Differenzierung. Wir müssen jetzt, bei den laufenden Verhandlungen zur Reform der EU-Verträge, eine hiebund stichfeste Differenzierungsklausel schaffen. Sie muss es möglich machen, dass sich eine Gruppe von Mitgliedsstaaten aufmachen kann zu mehr Europa, wenn mindestens ein Drittel der Mitgliedsstaaten es will -egal, wie viele Mitgliedsstaaten die Europäische Union hat. Und die Länder, die nicht mitmachen wollen, dürfen kein Veto-Recht haben. Selbst wenn eine Mehrheit der Staaten dagegen ist? Ich bin der Meinung, dass es reichen muss, wenn ein Drittel der Staaten dafür ist. Der neue EU-Vertrag soll im Dezember in Nizza verabschiedet werden. Werden die anderen EULänder bereit sein, dort eine so weit reichende Klausel zu verabschieden? Es wird nicht leicht sein, aber es ist unabdingbar. Bevor es nicht zu einem Einvernehmen über die Differenzierungsklausel gekommen ist, sollte man die Verhandlungen nicht abschließen. Würden Sie den Vertrag blockieren? Es gehört nicht zu den Grundzügen der Luxemburger Diplomatie, die Welt mit BlockadeDrohungen in Angst und Schrecken zu versetzen. Aber ich würde mich liebend gern jedem anschließen, der die Möglichkeit einer Blockade nicht völlig ausschließt. Warum ist Ihnen die Differenzierungsklausel so wichtig? Wenn wir die Tür zur weiteren Differenzierung zuschlagen, dann macht sich Europa auf in die absolute Unbeweglichkeit. Mit 24, 25 oder 30 Mitgliedsstaaten würden wir nicht mehr über politische Ambitionen reden, sondern uns nur noch über das ökonomische Minimum Minimorum streiten.

Die EU würde an Gewicht in der Welt und an Bindekraft nach innen verlieren. Auf Dauer

Wird die Avantgarde – andere sprechen von Kerneuropa – auf Dauer bestehen? Der Kern muss zu jedem Moment für jeden zugänglich sein. Einen Moment lang kann es eine Union innerhalb der Union geben, aber diese Fortschrittsunion darf sich nie endgültig der langsameren Restunion verschließen. Wir wollen kein Programm gegen bestimmte Länder, sondern ein Programm für mehr Europa. Und wenn wir das richtig machen, werden sich die anderen Länder auch nach einiger Zeit um Anschluss bemühen. Läuft das Ganze auf eine bundesstaatliche Lösung hinaus? Staaten und Nationen sind keine provisorische Erfindung der Geschichte.