Österreichs Bundeskanzler und EU-Ratsvorsitzender Wolfgang Schüssel im Wort-Interview über die politische Integration und die Grenzen der EU
Von der Diskussion über eine Krise der Europäischen Union hält Österreichs Bundeskanzler recht wenig. Wolfgang Schüssel redet lieber über das, was Europa und seine Bürger verbindet. Er nennt es den European Way of Life und möchte genau dieses Feeling als Ratspräsident stärken.
Wort: Herr Bundeskanzler, Österreich soll die EU aus der Krise führen. Unter Ihrem Vorsitz endet die ominöse Denkpause über die Zukunft der Union. Sehen Sie Licht am Ende des Tunnells?
Wolfgang Schüssel: Ich mag das Wort Krise nicht. Nicht Europa sondern die Illusionen über Europa sind in die Krise geraten. Dabei gibt es natürlich kritische .Elemente. Etwa die doch große Distanz der Bürger gegenüber wichtigen Projekten: Stichwort Verfassung. – Demgegenüber sehe ich aber auch große Hoffnung. Zum Beispiel, dass wir – vorbereitet vom luxemburgischen Vorsitz und finalisiert von der britischen Seite auf Ratsebene eine Finanzvorschau zu Stande gebracht haben. Das ist eine bedeutsame Einigung, die wir zu 25 erreichen konnten. Das werte ich als ein sehr positives Zeichen. Ein solches ist auch die breite Mehrheit im Europäischen Parlament für die modifizierte Dienstleistungsrichtlinie. Ein weiteres Hoffnungszeichen ist die Haltung der EU im emotionsgeladenen Streit um die Mohammed-Karikaturen. Dort haben wir zu 25 mit einer Strimme gesprochen. Damit haben wir unseren Weg, unser Lebensmodell, unseren Way of Life verteidigt. Dieser umfasst die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, aber auch den Respekt vor religiösen Meinungen. Sie sehen, es steht gar nicht so schlecht um Europa.
EU-Frühjahrsgipfel: Beschäftigung, Wachstum und Forschung im Mittelpunkt
Wort: Bleibt aber die Verfassungsfrage. Hier sind die Blicke auf Wien gerichtet.
Wolfgang Schüssel: Ja, sicher. Das ist ein Thema, das wir uns im Juni vornehmen. Zuerst steht aber der Frühjahrsgipfel an, bei dem es um so wichtige Themen wie Beschäftigung, Wachstum und Forschung geht. Jetzt sind alle Arbeitsanstrengungen darauf gerichtet.
Wort: Sie sprechen von positiven Signalen. Glauben Sie wirklich, damit die Menschen überzeugen zu können; etwa mit einer gemeinsamen Positionierung im Karikaturenstreit?
Wolfgang Schüssel: Ein Thema genügt sicher nicht. Aber meine Grundhoffnung besteht darin, eine wichtige Botschaft zu vermitteln: Europa muss schützen und nützen. Sei es bei der Vogelgrippe, beim organisierten Angriff von Massen auf europäische Einrichtungen oder in der Frage fairer Wettbewerbsinstrumente. Die Bürger sollen wissen, dass sie nicht allein gelassen werden. Jeder der 25 EUStaaten ist alleine schwächer als im Verbund. Europa kann nützen und kann schützen. Genau diese Botschaft muss noch verstärkt ins Bewusstsein der Menschen hineinsickern. Deshalb ist die Reflexionsphase, die wir im Juni 2005 gemeinsam beschlossen haben, so wichtig. Dabei darf diese Zeit keine Pause sein. Sie soll zum kollektiven Nachdenken über Europa genutzt werden.
Wort: 19 Millionen Menschen haben keine Arbeit. Die wollen keine Reflexionsphase, keine Debatte über ein Lebensmodell. Die wollen eins: einen Job.
Wolfgang Schüssel: Ich sehe keinen Gegensatz zwischen dem, was ich über den European Way of Life gesagt habe, und dem Einsatz für mehr Beschäftigung. Wir müssen in Europa fähig sein, mehr als zwei Probleme anzupacken. Wir müssen aber auch realistisch bleiben und die Ehrlichkeit haben, den Menschen zu sagen, dass Europa nicht für alles verantwortlich gemacht werden kann. Vor allem dann nicht, wenn die Hauptverantwortung bei den nationalen Regierungen und Parlamenten liegt. Wir können beim Frühjahrsgipfel natürlich etwas bewegen. Etwa durch die Steigerung der Forschungsaufwendungn oder die Verstärkung transeuropäischer Verkehrsnetze. Und auch die Koordination der nationalen Reformprogramme sowie die Sicherung nachhaltiger Energiestoffe sind Themen, die unmittelbar relevant sind für mehr Beschäftigung.
Die europäische Melodie ist der Klang
Wort: European Way of Life – klingt gut. Doch Europa zeichnete sich politisch eher durch Gegensätze aus. Etwa, was die Sozialmodelle angeht. Gibt es hier überhaupt die Möglichkeit eines gemeinsamen Weges?
Wolfgang Schüssel: In den 25 Staaten der EU leben rund 500 Millionen Menschen. Es ist natürlich eine völlige Illusion zu glauben, dass die nun alle gleich atmen, gleich denken, die gleiche Musik hören und in allen Lebenslagen die gleichen Standards haben. Die europäische Melodie ist der Klang. Und zwar nicht der Soloklang, sondern der des Orchesters. Dort spielen viele Instrumente. Das ist ein machtvoller Akkord, zu dem jeder etwas beiträgt. Bei all dem sollte man aber auch eins bedenken: Die Unterschiede innerhalb Europas sind weitaus geringer als die Differenzen zwischen dem europäischen Way of Life und dem Lebensmodell in den Vereinigten Staaten oder dem in asiatischen Ländern. In Europa besteht ein viel größerer Zusammenhalt als viele denken. Sicher gibt es Unterschiede. Sie haben die Briten und deren Aktion zur Dynamisierung der Wirtschaft angesprochen. Das ist ein anderes Modell, wie Sie es in Ihrem Land kennen und wie wir es auch in Österreich pflegen. Wir kombinieren ein hohes Maß an Wettbewerbsfähigkeit mit sozialem Zusammenhalt. Aber was Europa stark macht, ist eigentlich die Konkurrenz dieser verschiedenen Modelle.
Wort: Aber Herr Bundeskanzler, die Konkurrenz der Modelle hat, auf den Sozialschutz bezogen, die EU als Ganzes nicht wesentlich vorangebracht.
Wolfgang Schüssel: Auch hier gilt: Wir sind auf dem Weg. Heute diskutieren wir über soziale Mindeststandards. Das alles ist neu. Man darf Europa nicht überfordern. Ich habe in den zurückliegenden zehn Jahren eine unglaublich positive Verdichtung und Vertiefung beobachten können. Nach der Einführung des Euro und der Komplementierung des Binnenmarkts kommt nun eine neue Phase. In dieser Phase könnte ich mir durchaus vorstellen, dass – vorausgesetzt, nicht alle wollen mitmachen – eine Kerngruppe von Ländern in bestmimten Politikfeldern sich schneller weiterbewegt. Das ist eine Möglichkeit. Doch wir sollten es zu 25 probieren.
Wort: Verschiedene Geschwindigkeiten. Das würde unterm Strich aber weniger Integration bedeuten.
Wolfgang Schüssel: Verschiedene Geschwindigkeiten ist nicht das Ziel. Es kann aber der Weg sein. Nehmen Sie den Euro: Hier sind zwölf Länder den Weg schon gegangen, andere bereiten sich darauf vor. Unterschiedliche Geschwindigkeiten gibt es auch in der Schengen-Zone.
Wort: Vor dem Europaparlament haben Sie als Ratsvorsitzender auch eine Debatte über die Grenzen der EU angekündigt. Wo liegen Ihrer Meinung nach diese Grenzen?
Wolfgang Schüssel: Man sollte die Sache mit den Grenzen nicht nur geografisch festmachen. Mein Denkanstoß war in einem doppelten Sinn gemeint. Womit wir wieder beim European Way of Life wären. Wer unser Modell nicht leben will, wird sich nicht für Europa entscheiden können, und wir werden ihn nicht aufnehmen können. Das ist letztlich eine innere Frage, inwiefern man dieses spezifische, auf der Welt einmalige Modell leben will. Wir möchten nicht haben, dass die EU aufnimmt und aufnimmt, ohne die inhaltliche Bereitschaft der Kandidaten zu testen. Darüber hinaus ist zu prüfen, wie es um die Aufnahmefähigkeit steht. Das ist ein neues Thema, das wir im Herbst vergangenen Jahres in der Erweiterungsdebatte zu einer der Kernbedingungen erhoben haben. Diese Bedingung stellt heute keiner mehr in Frage. Das ist breit akzeptiert.
Wort: Europa ist, so kann man Ihre Aussagen interpretieren, in einer Phase der Selbstfindung. Dieser Reflexionsprozess dürfte also kaum unter Ihrem Ratsvorsitz abgeschlossen werden?
Wolfgang Schüssel: Ich bin überzeugt, dass wir das nicht abschließen können. Vor der Entscheidung über den Text sollte eine Verbesserung des Kontextes erreicht werden. Das war die Idee Jean-Claude Junckers, die ich für sehr klug gehalten habe. Wir versuchen, diese Idee jetzt mit Leben zu erfüllen. Dazu gehört auch die Förderung der Schutzfunktion Europas.
Wort: Diese Funktion sollte auch den Verfassungsvertrag stärken, der in Frankreich und den Niederlanden durchgefallen ist.
Wolfgang Schüssel: Frankreich ist ein gutes Beispiel. Dort war die Dienstleistungsrichtlinie ein wesentlicher Stolperstein. Hätten wir den Kompromiss von heute damals schon gehabt, wer weiß, wie das Votum über den Verfassungsvertrag ausgegangen wäre. Der Kompromiss wird uns sicher weiterbringen. Er ist ein Mittel, den Bürgern das zu vermitteln, was Europa an Positivem leisten kann. Nützen und schützen.
Wort: Sie wollen den Vertrag also durch konkrete politische Schritte retten, oder?
Wolfgang Schüssel: Das ist es. Durch viele kleine pragmatische Schritte. Europa muss zuhören und dort mit seiner Aktion ansetzen, wo die Menschen der Schuh drückt.
Quelle: Wort, 17. Februar 2006, Journalist Marc Glesener